Hermann Hommel

Geboren 21. Januar 1847, Altensteig (Schwarzwald), gestorben 17. Februar 1917 Haus Herrenflur, Kempfeld (Hunsrück)

Geschichte der Familie Hommel (Mainz 1920) II S. 61 – 104

Hermann Hommel, Geschichte der Familie Hommel :: Mainz 1920

[Editorial]

Diese digitale Ausgabe der Memoiren von Hermann Hommel bedurfte mehrerer Arbeitschritte. Mein Exemplar des Büchleins habe ich über meinen Vater Hermann Speer von dessen Mutter Wilhelmine Speer, geb. Hommel, übernommen. Ich habe Scans der Buchseiten gefertigt, habe sie mit einem OCR-Programm (ABBYY Finereader) in einen maschinenlesbaren Text umgewandelt. Dieser Text wurde entsprechend den Richtlinien der Text Encoding Initiative (TEI) mit Hilfe eines XML-Editors (oXygen) mit Markup versehen und dann in einen HTML-Text umgewandelt.
Heino Speer 2019/2020.

I. Geschichte der Familien Hommel / Maeulen / Schaefer

[Transkription folgt. 22. Juni 2019. H.S.]

[II.] Eine Übersicht über unseren Braut- und Ehestand

[Seite 61] Die Lebensreise ging durch blühende Täler, über steile Berge; Sonnenschein und Regen wechselten, Kampf und Ausruhen waren Begleitgesellen, aber Segen der Arbeit und eine Ernte von Glück haben als Krone unseren Ehestand belohnt.

Welche Zufälligkeiten spielen im Leben der Menschen die entscheidende Rolle! Es war im Jahre 1873, da lernte ich durch meinen Freund Julius Römheld den jungen Konrad Ludwig Schaefer kennen. Ich füge ein, von meinem vierzehnten Lebensjahre ab war ich auf die eigenen Füße gestellt. Durch meinen Verdienst unabhängig und selbständig, konnte sich mein Charakter unbehindert entwickeln, bewahrt von der guten Kinderstube des Elternhauses, sodaß mein lebhaftes Temperament ohne Auswüchse sich entfalten konnte. Eine solche Erscheinung war den beiden Söhnen aus der dieser Freiheit gegenüber philisterhaften elterlichen Auffassung etwas neues. Wir haben uns bald freundschaftlich aneinander geschlossen, manchen fidelen Abend und namentlich Sonntagsausflüge verlebt. Konrad Ludwig war sehr musikalisch. Ich schwindelte ihm von meinem herrlichen Tenor vor. Es wurde ein musikalischer Bierabend in seinem Elternhause verabredet. Mit Hohngelächter ist mein Lied: „O Tannebaum“, das einzige, welches ich vorsetzen konnte, begrüßt, und der von mir beabsichtigte fröhliche Abend erreicht worden.

Da habe ich zum erstenmal mein Idol kennen gelernt. Nach späterer Erzählung soll der Eindruck durch meine Lebhaftigkeit bei dem scheuen Kinde etwas abschreckend gewesen sein. Ich nehme aber an, daß gerade diese Außergewöhnlichkeit als Samenkorn in dem weichen Herzchen einen warmen Nährboden gefunden hat, aus welchem das Pflänzchen der Liebe, begünstigt durch späteres Zusammentreffen, emporgewachsen ist. Ich sehe das ernste Mädchen heute noch vor mir im dunklen, grünen Samtkleide, ein reizender schlanker Backfisch, mit großen Rätselaugen, edlem Profil und einem süßen, feinen Kußmäulchen.

[Seite 62] Durch ihre spätere Abwesenheit in Augsburg kam mir das Mädchen aus den Augen, aber nicht aus dem Sinn. Freudig überrascht sah ich Mathilde nach Jahresfrist an einem schönen Abend beim Vorübergehen zum Fenster herausschauen. Das Vögelchen war in sein Nestchen zurückgeflogen. Ich suchte nun sehr häufig Veranlassung zu Fensterpromenaden, und es war merkwürdig, daß ich, vom Glücke begünstigt, Gelegenheit fand, jedesmal eine Augen-Konversation einzuleiten. Einen großen Schritt voran hat mir der Karneval 1875 geboten. Wir drei Freunde verabredeten zur Kappenfahrt eine kleine Gruppe, Julius, als Zentrumsmann, schwarz, Konrad als Sozialist, rot, und ich, als Demokrat, ein Harlekin mit den Narrenfarben. Die Einkleidung geschah im Hause Schaefer und ich war nicht wenig stolz, daß die Frau des Hauses mich einpuderte. Wir persiflierten die politischen Parteien der vorausgegangenen Reichstagswahl. Auf dem Rücksitze der Droschke hatten wir ein Petroleumfaß aufgebunden mit der Inschrift: „1874er Most“, dem bekannten Reichstagsmitglied. Unsere Gruppe fand großen Beifall und erhielten wir als Preis 12 Flaschen Sekt.

Ich war nun offiziell in der Familie Schaefer eingeführt und benützte häufig die Gelegenheit, mich heimisch zu machen. Die Händedrücke mit der gütigen Haustochter waren ein Fluidum von Herz zu Herz, welches als Seelen-Rapport mir den Mut gab, die Burg zu belagern.

Ich schalte hier ein: Weihnachten 1876 sandte ich auf den Gabentisch ein Buch „Blüten und Perlen deutscher Dichtung“, darin hervorgehoben ein Gedicht von Eduard Mörike mit der Überschrift: „An die Geliebte“ (von mir extra unterstrichen), mit der Widmung:
„Des Lebens ganzer Sinn beruht auf Hoffnung, der Schwester von Vertrauen. Dieser Wahrheit, welcher mancher Weise vor und nach mir ausschmückende Worte verliehen hat, füge ich, mein Fräulein, den Wunsch an, daß Sie meiner stets als einem aufrichtigen Freund gedenken mögen, welcher von dem allenkenden Schicksal die Fülle ungetrübten Glückes für Sie dringend erbittet.
Mainz, 24. Dezember 1876. Hermann Hommel.“

An einem schönen Abend, auf einem gemeinsamen Wege nach Weisenau, trugen wir zusammen einen Korb Nahrungsmittel für das elterliche Sommerhaus. Da kam die Inspiration über uns. Der Korb ist zu schwer, wir stellten solchen nieder und im gleichen Augenblick lagen wir uns in den Armen und heiße Küsse waren die Symphonie unserer heimlichen Verlobung. Köstliche Erinnerungen, diese allerschönste Zeit der Jugend! Das geheimnisvolle Suchen und Finden der Zusammenkünfte.

[Seite 63] Nun galt es für mich, eine feste Grundlage der sicheren Existenz zu schaffen; ich war überzeugt, daß der alte Herr Schaefer seine Tochter nur einem Manne mit eigenem Geschäft anvertrauen würde. Ich gründete also im Jahre 1876 ein Agentur-Geschäft mit einem ersparten Kapitälchen von 1500 Mark.

Mit frischem Wagemut stürzte ich mich nun in die Arbeit und ich kann mir das Zeugnis ausstellen, daß ich mit außerordentlichem Fleiße und Umsicht vom frühen Morgen bis spät in die Nacht hinein meine Aufgabe erfüllte. So war es mir möglich, meine erste Jahres-Bilanz mit einem Verdienste von 10000 Mark abzuschließen. Erfolg kann nur bei Optimismus, mit Einsetzung der ganzen Persönlichkeit, erzielt werden, verbunden mit der Forderung, in allen geschäftlichen und persönlichen Handlungen von den Richtlinien: Sparsamkeit, strengster Reellität, weitester Kulanz, unbezweifelter Rechtlichkeit nicht abzuweichen und dem Lehrsätze zu folgen: „Leben und leben lassen.“

Nun war meine Zeit gekommen. An einem Sonntag Vormittag im Mai 1877 besuchte ich Herrn Schaefer und führte mich ein mit den Worten, er werde sich wohl gedacht haben, daß meine häufigen Besuche in seiner Familie nicht seiner Person gelten und ich käme mit der herzlichen Bitte, um die Hand seiner Tochter Mathilde werben zu dürfen. Zur Begründung legte ich meine Bilanz vor und erhielt dann die Zustimmung zu unserer Verlobung. Nachmittags kam die Mutter von Weisenau und erteilte uns auch ihren Segen. Es konnte imponieren, daß ich gebeten hatte, mit der Hochzeit noch ein Jahr zu warten, um mein junges Geschäft sicher auszubauen. Auch dieses Jahr ging vorüber und am 15. Mai 1878 wurden wir in der {Johanniskirche} von Pfarrer Büttel getraut. Die Hochzeitsfeier wurde im Elternhause abgehalten. Unsere Wohnung und das Geschäft waren in dem kleinen Häuschen Rheinstraße Nr. 73 neben dem Holländischen Hof.

Die Hochzeitsreise führte zuerst nach Schauren in den Hochwald. Ich wollte doch bei meinen Waldfreunden mit meinem schmucken jungen Frauchen prunken. Ich entsinne mich, nach Hause gemeldet zu haben: „Hier herrlicher, frischgrüner Maienwald und in der Mitte Eure glückvollen Kinder.“ Die Reise führte dann über München nach dem Königsee und auf dem Rückwege noch zu einem kurzen Besuche bei meinen Eltern.

[Seite 64] Am 12. Juli 1879 brachte dann der Klapperstorch unser erstes Kind Mimi. Ein unbeschreibbares Glück, namentlich bei der jungen Mutter, zog in unseren Ehestand ein. Ein Beispiel über meine Tätigkeit als junger Vater: Wir waren mit der Kleinen sehr ängstlich, namentlich mit der Ernährung. So habe ich bei Nacht die Milch abgekocht und zur Abkühlung vor das Fenster gestellt. Es war Mondschein. Voll Sehnsucht wanderte mein Herz nach dem Hochwald, wo der Brunstschrei des Hirsches mich, den Jäger, lockte, aber Pflicht und Liebe waren Meister.

Das Geschäft entwickelte sich weiter gut, es mußte ein größeres Haus beschafft werden und so siedelte ich im Jahre 1880 in das Haus Heiliggrabgasse 3 über. Nicht gering waren die durch diese Änderung übernommenen Sorgenlasten, aber der Erfolg ist von Jahr zu Jahr gewachsen, sodaß ich dazu übergehen konnte, das Haus in Eigentum zu erwerben und dabei noch ein Zweiggeschäft neben der evangelischen {Johanniskirche} zu gründen. In diesem Hause wurden unsere beiden Söhne geboren, im zweiten Stock unser {Konrad} am 16. Februar 1883, ein blütenweißes, blondes Kind, und Hermann am 12. Februar 1885 im ersten Stock, als Wunderknabe angesehen, ein kräftiger schwarzer Junge. Viel Arbeit, aber auch viel Freude verbanden sich beim Heranwachsen der jungen Gesellschaft.

Wir lebten sehr zurückgezogen in den Anforderungen von Geschäft und Haushaltung, aber gehoben in dem Bewußtsein des raschen Fortschrittes in unseren Verhältnissen. Dadurch veranlaßt, trat Sensal Siegmund Kahn an mich heran mit dem Vorschläge, ich solle das Grundstück von S. B. Goldschmidt, Eisengroßhandlung, hier, kaufen. Im ersten Augenblick war mir die Idee kaum faßbar, daß dieses weltberühmte Haus meine Geschäftsstätte werden sollte. Es schien mir eine sehr gewagte Sache. Mein Schwiegervater war leider gestorben, sodaß ich dessen Rat und Beihilfe entbehren mußte, und meine Mittel waren im Geschäfte festgelegt. Ich wagte aber den Sprung, stellte das gewünschte Angebot auf Mk. 125000.—. Kahn kam nach einigen Tagen mit dem Aufträge, mir das Objekt zu Mk. 130000.— anzubieten. Meine Antwort war: „Ich behalts“. Eine billige Sache soll man nicht noch billiger haben wollen. Am Abend des Kaufes wurden mir schon Mk. 50000.— Nutzen geboten. Der Umzug erfolgte 1892.

[Seite 65] Über dieses mein Grundstück habe ich folgenden historischen Nachweis: In den „Antiquarischen Wanderungen durch Mainz“ von Dr. Freiherr Ludwig Karl von Köth-Wanscheid heißt es u. a.: „Das Franziskanerkloster nebst Kirche, Hofraum und Garten stand auf der Stelle der heutigen Häuser C 148 (Betzelsgasse 3), C 152 (Stadthausstraße 10 — 14), Franziskanergasse 4, Emeransstraße 30 — 32, Betzelsgasse 3 — 5. Im Jahre 1612 überließ der Kurfürst Johann Schweikard von Cronenberg den Franziskaner- oder Barfüßer-Mönchen das bis dahin von Nonnen bewohnte Kloster zum großen Konvent und erstere erbauten sich in den Jahren 1622 bis 1628 eine neue Kirche und ein neues Kloster, welche während der Belagerung 1793 abbrannten. — Nach Wiedereroberung der Stadt durch die Deutschen ließen die Franziskaner Kirche und Kloster ausbauen. — Nach Aufhebung der Klöster 1802 kamen die Klostergebäude zur Versteigerung und wurde die Kirche als Militär-Magazin benützt, dann 1832 auf den Abbruch versteigert. Der Bankier und Großhändler L. Goldschmidt hat die Gebäulichkeiten auf der Fläche des vormaligen Klostergartens und teilweise des Klosters errichtet.“ —

Bockenheimer, in seiner Lebensbeschreibung von Franz Conrad Macké, Bürgermeister in Mainz, Seite 92, berichtet, daß derselbe in sein eigenes Haus, Betzelsgasse 5, also in mein heutiges Haus eingezogen ist. — Nach einer Erzählung von Fräulein Sophie Christ, meiner Nachbarin, wurde bei Anwesenheit von Napoleon I. und seiner Gemahlin Josephine, eine Festlichkeit im Hause des Bürgermeisters abgehalten und zur Erinnerung von der Kaiserin ein Baum im Garten gepflanzt, jedenfalls die Paulownia imperialis, welche als mächtiger Baum von zirka 1 Meter Durchmesser in meinem Garten steht und auf das nötige Alter geschätzt werden kann. Diese Überlieferung entstammt der Mutter von Fräulein Christ, welche als Zeitgenossin mit der Familie Macké befreundet war.

(Ich möchte hier noch einschalten: Ich arbeitete nach den Grundsätzen, das wahre Geschäftsglück darf von den Grundbedingungen der Moral nicht abweichen. Die ganzen Kräfte, Kenntnisse und Zeit sind einzusetzen, von den Fehlern der Mitmenschen muß man lernen, seinen guten Namen vor allen Dingen hochhalten, möglichst viele Intelligenz in seine Dienste stellen, deren Arbeit gut bezahlen und durch verständige Behandlung das Gefühl der Abhängigkeit nicht aufkommen lassen; [Seite 66] außerdem suchen, Geschäfte in den Artikeln zu machen, welche die Konkurrenz nicht hat.)

Meine liebe Frau schmückte mit einfachen Mitteln ihr neues Heim geschmackvoll und künstlerisch und so konnten wir in behaglichen Verhältnissen unseren Lebensgang ausgestalten.

Im Jahre 1895 erhielt ich, durch Beihilfe meines guten Freundes Niels Haslund in Christiania, das Exequatur als Vizekonsul von Schweden und Norwegen.

1899 wurde ich von Seiner Königlichen Hoheit dem Großherzog von Hessen zum Kommerzienrat ernannt und gedenke ich dabei meines Freundes, des verstorbenen Oberbürgermeisters Dr. Heinrich Gaßner und seiner liebenswürdigen Frau Gemahlin Therese, geb. Reuleaux.

Am 13. Dezember 1894 kam unser jüngster Sohn Karl zur Welt.

Im Jahre vorher hat eine schwere Krankheit meiner lieben Frau (doppelseitige Lungen- und Rippenfellentzündung) mich mit allergrößter Sorge belastet. Doch deren gesunde, kräftige Natur überwand mit Beihilfe unseres Freundes, des Herrn Geh. Sanitätsrat Dr. Vierling, die Todesgefahr.

Im Jahre 1913 erhielt ich die Ernennung zum Geheimen Kommerzienrat. Ich war an diesem Tage im Hochwald auf der Jagd. Die freudige Nachricht wurde mir durch Telefon übermittelt. Auf eben demselben Wege gratulierte ich der „Frau Geheimrat“. Man kann sich deren große Freude über diese Ehrung vorstellen.

Unsere Ferienzeiten verlebten wir früher zuerst auf der Asbacher Hütte bei den Bielefelder Schwestern, später auf dem Forsthause Wildenburg. Ich will nicht versäumen, unseres Kumpanen, des alten Karl Engers zu gedenken; derselbe, ein Stelzfuß, wind- und wetterfest, ein Original als Naturbursche, ein unübertreffbarer Forellenfischer, hatte die Aufgabe, meine Jungen bei den Spielen zu überwachen. Ich möchte nicht behaupten, daß dessen Methode, namentlich für Stadtkinder, einwandfrei war, sie lernten aber Feld und Wald genau kennen mit vielen nützlichen Erfahrungen für das Leben. Die gemeinsamen Spiele mit den Kindern des Försters Schaefer, Rudolf und Luischen, welche auch schon gestorben sind, waren eine Fülle von Vergnügen und leben diese herrliche Ferienzeiten im Glanze hoher Freuden unveränderlich [Seite 67] in der Erinnerung fort. Interimistisch bewohnten wir dann eine kleine Wohnung bei Schmied Stumm in Kempfeld, bis unser Haus „Herrenflur“ im Jahre 1910 fertiggestellt war. In der behaglich künstlerisch-geschmackvollen Einrichtung kommt der hochentwickelte Schönheitssinn der Hausfrau beherrschend zum Ausdrucke, zum Entzücken aller unserer Gäste. Die Kunstgegenstände und antiken Möbel sammelten wir auf unseren Reisen und war mir der praktische kaufmännische Sinn meiner lieben Frau beim Einkauf durch Erzielen niedriger Preise eine Quelle von besonderem Vergnügen.

Unser Haus „Herrenflur“ liegt ca. 600 Meter hoch, zwischen Kempfeld und dem Forsthause Wildenburg, am Rande meines eigenen Waldes, inmitten meines Grundstückes, welches ich aus Heide in Kulturland umgeschaffen habe, mit Wiesen, Baumstück und Gartenland. Das Ganze ist mit einer Naturhecke aus Fichten ca. 2 Meter hoch umgeben. Jedermann, welcher an der Anlage vorübergeht, ist von deren Schönheit und Idylle entzückt. Eine wunderbare Aussicht auf die Berge des Hoch- und Idarwaldes schließt ab und bildet den Glanzpunkt der ernsten, hochromantischen Gebirgsgegend. Die Felsen der Wildenburg, Borr, Katzenloch-Dell sind nahe gelegene Spaziergänge, welche mit ihren pittoresken Partien, dichten Wäldern, weiten Aussichten, ihrer Einsamkeit und Stille selbst einen anspruchsvollen Naturfreund begeistern.

Meine Frau hatte große Freude am Reisen. Berlin, Wien, München, Florenz, Zürich, Belgien, Holland waren die Zielpunkte. Herzlich bedaure ich heute, daß ich ihrem Wunsche, Paris zu sehen, nicht entsprochen habe. Am meisten befriedigt hat der Besuch alter, romantischer Städte: Würzburg, Nürnberg, Regensburg, Passau, Ansbach, Rothenburg a. d. Tauber, Ulm, Friedrichshafen, namentlich auch Sigmaringen, Tübingen, Ellwangen, Grailsheim [Sic!], Heidenheim und vor allem das alte, liebe Schw. Hall und Heilbronn. Auch besuchten wir Markgröningen mit den Gräbern meiner lieben Eltern. Viele Antiquitäten haben wir auf diesen Reisen gesammelt. Eine besonders große Liebhaberei war der Besuch von Frankfurt und Wiesbaden, um die Läden zu betrachten und die Weihnachts-Einkäufe zu besorgen, wenn die Läden so recht überfüllt waren.

Als Erbschaft der Erziehung meiner Frau im Elternhause, als älteste Tochter im Kreise von sieben Geschwistern war unser Hausstand ein [Seite 68] allgemein anerkanntes Musterbeispiel. Freundlich, aber energisch wurden die Dienstboten ausgebildet. Eine gütige Hand des Schicksals führte vor 15 Jahren unser Jettchen in den Familienkreis, welche ganz im Sinne der Herrin sich ausbildete und heute als getreue Sachwalterin die Haushaltung führt.

Über das Leben, Leiden und Hinscheiden meiner vielgeliebten Frau habe ich besondere Erinnerungsblätter niedergeschrieben, welche auch deren Tätigkeit im Vereine für Volkswohlfahrt und Kriegskinderfürsorge beleuchten. —
Ich schließe diese Abteilung.

Ich besitze folgende Familien-Ölgemälde.
Urgroßeltern: Christoph Eberhardt Schoell, reisiger Förster in Langenbrand, dessen Ehefrau Maria Wilhelmine, geb. Gaus.
Großeltern: Ludwig Friedrich Ferdinand Hommel, reisiger Förster, Schlierbach, dessen Ehefrau Christiane Magdalene, geb. Schoell.
Ururgroßväter: Joh. Christoph Maeulen, reisiger Förster, Poppenweiler.
Georg Fr. Bolay, Churfürstlicher Meisterjäger, Eglosheim.
Urgroßeltern: Joh. Friedr. Kantner, reisiger Förster, Schlierbach, dessen Ehefrau Euphrosine Luise, geb Schoell.
Großvater: Joh. Gottl. Maeulen, Revierförster, Gschwend.

[im Besitz Heino Speer]

Ein junges Mädchen auf eine Kupferplatte gemalt, mit großer Halskrause. Inschrift: „AeTAL S 13 Anno 1625“.
Soll nach Angabe von Tante Gottschick eine Urahne sein, Tochter eines Stadtpfarrers in Ulm, steht vielleicht mit den Familien Claß oder Wiedmann in Verbindung.
2 Miniaturbildchen: Gehegbereiter Gottschick, Eglosheim, dessen Ehefrau geb. Maeulen, meine Großtante.
2 Miniaturbildchen: Mein Großvater und Großmutter Hommel in ihren alten Tagen.

[Seite 69] Für meine Kinder und Enkelkinder lege ich hier eine Übersicht meines Lebensganges nieder.

EINLEITUNG.

Ich bezwecke nicht eine Verherrlichung meiner Person, sondern beabsichtige nur den Werdegang eines Menschen zu beleuchten, welcher aus den dürftigen Verhältnissen des Elternhauses, mühsam unter Aufwendung all‘ seiner geistigen und körperlichen Kräfte, nur auf sich selbst angewiesen, die großen Schwierigkeiten, welche sich dem Aufstieg entgegenstellten, überwunden hat. — Dieser Werdegang sei gleichzeitig eine Beweisführung gegen die Anschuldigungen der Weltverbesserer, daß der Kapitalismus die Ursache aller Übel der Armut bilde. Jede Arbeit findet ihren Lohn; wenn man diesen Lehrsatz durch Verteilung des Besitzes aufheben will, so hört alle Strebsamkeit und jeder Fortschritt auf und die Welt versinkt in einen Sumpf, welcher alle verschlingt. Meine Lebensarbeit liefert den Beweis, daß jeder Mensch sein Schicksal durch eigenen Willen und eigene Kraft bestimmen und durch zähes Ausharren das gesteckte Ziel erreichen kann. — Mein hohes Alter und der damit verbundene Rückgang meiner Geisteskräfte macht mir Schwierigkeiten, den Gedankenausdruck zu meistern, doch diese einfachen und schlichten Ausführungen sind ja nur für einen engen Kreis und nicht für die Allgemeinheit bestimmt und nur festgelegt als Fortleben im Wechselstrom der Zeit.

Ich stelle in erster Linie voran meine heutige Auffassung über das Seelenleben und die Empfindungen, welche mein Herz bewegen. — Es ist naturgemäß, daß im hohen Alter die Frage des Absterbens in den Vordergrund tritt, die Ungewißheit über die Dinge, welche nach dem Tode kommen werden, löst bei dem Menschen im allgemeinen eine gewisse Furcht aus; man spricht mit hohen Tönen der Überlegenheit vom Tode, wünscht in vielen Lebenslagen den Tod herbei und wenn er kommt, scheut man den unheimlichen Gesellen. Beispiel: Eine arme, alte Frau hatte Abfallholz im Walde gesammelt, das Auflegen auf den Kopf machte Schwierigkeiten, auf ihr Jammern, der Tod möge sie von diesem kärglichen Erdendasein erlösen, stand plötzlich derselbe vor ihr und fragte nach ihren Wünschen. „Ach lieber Tod, ich wollte Sie nur bitten, mir das Gebund Holz aufzuheben“, war die Antwort der Alten.

[Seite 70] Seit dem Heimgang meiner lieben, unvergeßlichen Frau wurden in einem dauernden großen Heimweh meine Lebensanschauungen geläutert, und ich kann sagen, dadurch mein Seelenleben abgeklärt. Ich hause in der Einsamkeit im ausschließlichen Verkehre mit der Natur, mit dem Walde, im erhöhten Empfinden all‘ der Herrlichkeiten, welche die verschiedenen Jahreszeiten bieten. Der Druck des Alltags in dem brodelnden Sumpfe der Stadt, mit den öden Zerstreuungen der kläglichen Daseinsbelastung und anhängenden materiellen Sorgen, der Kampf der Geister im Wettlaufe der Gier nach Geld und Gut, schnöder Eigennutz, werden hier in der kernigen Natur durch die reinen Winde im Entstehen hinweggeblasen. Die Überhebung der sogenannten guten Gesellschaft, deren Ansprüche, welche als höhere Kultur bezeichnet werden, im Tone feinen Umgangs, in den Gewohnheiten des übertriebenen Luxus in Kleidung, Wohnung, in der Eifersucht bei Einschätzung der Persönlichkeit, das Unverständnis über die gerechten Ansprüche der jetzigen Umwandlung der Weltordnung, sind Erscheinungen, welchen ich weltfremd gegenüberstehe und trotz meiner Lebensstellung ohne Verständnis bin.

Ich machte mich von diesen Einflüssen frei und richtete mein Leben auf Grund größter Einfachheit in allen Dingen ein. In Zufriedenheit, das Sinnen auf das Wohl meiner Kinder beschränkt, suche ich meine Tage zu beschließen. So wandere ich alltäglich nach einem Lieblingsplatz meiner seligen Frau, angelockt durch eine herrliche Aussicht; mein Blick schweift zu den fernen Bergen des Taunus, am Donnersberg vorüber nach den blauen Höhen des Melibokus und Königstuhles, der Hardtberge, dann nach den Bergen und Tälern der Alsenz, Glan, Blies und Queich, mit Durchblicken nach den Vogesen. In diesem weiten Gebiete welche ungezählte Menge von Bergen, Hügeln, eingeschnittenen Tälern, gleichend den starr gewordenen Wogen des Meeres! Im Anblick dieser göttlichen Natur versenkt sich mein Geist in das Überirdische; meine Gedanken durchwandern Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Geister all‘ meiner Lieben, welche die körperliche Hülle verlassen haben, schweben an meinem inneren Gesichte vorüber. Die Nichtigkeit, Eitelkeit des Erdenlebens sind Dunstwolken, welche dem Lichtstrahl reiner Erkenntnis weichen müssen, über die Gräber der Lieben schweift mein Blick in die Sphären einer anderen fernen Welt. Ich stemme meine ganze Kraft gegen die Anfälle des Pessimismus, dieser [Seite 71] Altersschwäche-Krankheit, ich suche das Rätsel des geistigen Weiterlebens zu lösen und beneide den unentwegten, kindlichen, köstlichen Christusglauben meiner Eltern, welche durchdrungen von den Verheißungen ihrer Religion selig dahingeschieden sind. Ich bemühe mich, eine erhabene Geistesrichtung aufzubauen, lebe in der vollen Überzeugung, daß der Geist der Liebe meiner herrlichen Frau um mich und über mir schwebt und habe jeden Zweifel daran endgültig niedergekämpft. Die ganze Welt-Organisation legt Zeugnis davon ab, daß die abscheidenden Geschlechter nur körperlich vermodern, ihr Geist aber ein Auferstehen feiert. Die Überzeugung eines Wiedersehens wurzelt fest in meinem Herzen und gibt mir die Spannkraft, eine ideale Religion zu pflegen, ohne Gebräuche, ohne Kirche, ohne eine Vermittlung mit unserem Herrgott, dem Lenker aller Dinge. In diesem Glauben erwarte ich den Tod als Freund, Erlöser und Vermittler mit dem Jenseits; kommt er heute, kommt er morgen, ich bin nicht die Beute irdischer Sorgen. — Ich schließe damit die Einleitung, welche der eigentlichen Aufzeichnung meiner Lebensgeschichte vorgesetzt ist.

Meine Lebensbahn.

Benjamin Franklin sagt in der Einleitung zu der Beschreibung seiner Jugenderinnerungen:
„Ich habe immer ein Vergnügen darin gefunden, kleine Anekdoten aus dem Leben meiner Voreltern in Erfahrung zu bringen. —
Überdies sehe ich mich noch anderweitig dazu veranlaßt, da ich mich aus der Armut und Dunkelheit, in der ich geboren und aufgewachsen bin, zu einer einflußreichen Stellung aufgeschwungen habe und da mir bis zu diesem Zeitpunkt das Glück in reichem Maße zuteil geworden ist, so bin ich der Ansicht, daß meinen Nachkommen vielleicht mit der Kenntnis der Mittel, denen ich das Gelingen verdanke, gedient sein möchte.“ — [Seite 72]

Jugendjahre.

Ich bin geboren am 21. Januar 1847 zu Altensteig im württembergischen Schwarzwald. Meine Mutter erzählte mir, ich wäre ein besonders kräftiger Junge und Schreihals gewesen. 1850 siedelten meine Eltern nach Freudenstadt über. Bei meinen frühesten Erinnerungen haften: in der Klein-Kinderschule war ein Mai-Kinderfest, bei dessen Festzug in den Wald eine kleine Freundin, Tochter von Konditor Nestle, mit mir den Vorzug hatte, die Spitze zu bilden. Die Eltern waren nicht wenig stolz auf diese Auszeichnung. — Ein anderes, trauriges Bild steht mir vor den Augen. Ein Nachbarskind ertrank in der Pfuhlgrube, groß war dabei meine Trauer und mein Schmerz, begleitet von dem Schauer vor dem Tode, als ich an der Leiche der kleinen Freundin mich ausweinte.

Recht lebhaft denke ich an meinen ersten Schulgang. Meine Mutter gab mir einen Segensspruch in ein Ei gebacken mit auf den Weg. Er hat gute Früchte getragen. — In diese Zeit fällt auch die Erkrankung an einer schweren Lungenentzündung, die mich an den Rand des Todes brachte. Auch denke ich an mein Brüderchen Robert, ein gar liebliches, herziges Kind, welches in dieser Zeit gestorben ist. Mein Lehrer war ein Herr Wälde. Ich machte in der Schule bei leichter Fassungskraft gute Fortschritte, welche mit einem Belohnungspreis aus einer Stiftung anerkannt wurden. —

Im Jahre 1858 wurde mein Vater nach Margrethhausen im Eyachtale versetzt. Die Überführung des Hausgerätes vermittelte ein Planwagen, in diesem war ein Strohlager zugerichtet, das meinem älteren Bruder Alexander und mir als Lagerstätte diente. Diese Art zu reisen hat uns viel Vergnügen und Abwechselung geboten gegenüber dem heutigen Durchhasten mit der Eisenbahn. Margrethhausen liegt in einem engen Felsentale an der oberen Eyach, eingebettet zwischen hohen Bergen, hochromantisch und von großem Einflüsse auf mein jugendliches Gemüt, dessen Naturliebe hier den Anfang zu einer verständnisvollen Auffassung gewonnen hat. Unsere Wohnung war in einem alten Frauenkloster, welches in den Berg hineingebaut war, der Eingang oben, parterre; und an der Vorderseite wohnten wir zwei Stock hoch. Im ersten Stock befanden sich unverändert die Klosterzellen und ein Raum mit ungeheuer großem Backofen, nebenan rauschte ein kleiner Bach, vom Hause überwölbt. Da konnte meine Phantasie irrlichtern, [Seite 73] Geschichten ersinnen und in die Wirklichkeit umsetzen. Natürlich war die ganze Luft mit Sagen von umgehenden Geistern erfüllt und versuchten die alten Dorfweiber, mich mit deren Erzählung zu ängstigen, eine Möglichkeit, welche allerdings bei meinem Mute ausgeschlossen war. Ich erinnere mich eines Falles: Über uns wohnte der katholische Geistliche mit seiner Schwester, welche an einem Abend allein zu Hause war. Plötzlich hörte ich ein gräßliches Hilfgeschrei; ich rannte hinauf, das Fräulein lag am Boden, mit dem Schlafrock des Herrn Pfarrers bedeckt und flehte in hohen Tönen um Hilfe durch die heilige Jungfrau. Ich nahm den Schlafrock an mich und half mit, die Jammernde aufzurichten. Wieder beruhigt, erzählte mir die Arme, beim Durchgehen von Zimmer zu Zimmer habe plötzlich eine dunkle Wolke sich auf sie gesenkt, durch die Plötzlichkeit und den Schrecken glaubte sie, der Geist eines Kapuziners habe sie überfallen und damit war das Trauerspiel erledigt. Ich war ritterlich genug, Stillschweigen zu bewahren, und erwarb mir die ganze Gunst und Gnade der ältlichen Dame. Solche harmlosen Geschichten gehören zum ganzen Bilde und sind namentlich für die Kinder meiner Nachkommenschaft bestimmt.

Ich war nun mittlerweile zum Lateiner vorgerückt und wanderte jeden Tag 1 1/2 Stunden nach Ebingen hin und her. Dieses Alleinwandern erfüllte mit allen denkbaren Geschichten und Abenteuern meinen Geist; ich war kein Musterknabe; nach 50 Jahren suchte ich den Strauch auf, unter welchem ich todesübel der gerauchten Halbkreuzer-Zigarre meinen Obulus darbrachte. Mein Mittagessen bestand in einem Butterbrot, Obst oder sonstige Zutat und abends nach Heimkunft wurde dann gehörig gefuttert. Meine Kameraden glaubten, mich durch ihr gutes Herz bemitleidend, einigemale zum Mittagessen einladen zu sollen. Ich faßte diese lobenswerte Gesinnung als Almosen auf und die Folge war eine tüchtige Prügelei. Meine besten Freunde waren ein Gänsehirt in meinem Alter und ein älterer Mann, der Schafhirt. Mit diesen herumziehend, schwänzte ich eine Woche lang die Schule; es war gar zu schön, am freien Feuer zu kochen, die Schafe in der Reihe zu halten und Unsinn zu treiben. Jedoch das Schicksal ließ nicht auf sich warten. Von der Schule wegen meinem Ausbleiben reklamiert, kam meine Schandtat an den Tag. Mein Vater prügelte mich gehörig durch; ich wurde in ein dunkles Ofenloch eingesteckt, bei Wasser und Brot. Das milde Herz meiner Mutter erwarb mir Gnade; bei [Seite 73] einer gewissen verständnislosen Erfassung meines Charakters wurde durch diese Behandlung mein Eigensinn geweckt, ich weigerte mich, fernerhin die Schule in Ebingen zu besuchen und erklärte, ich wollte nur Bauer werden. Um mich zu erproben, wurde ich von einem benachbarten Bauer als Kleinknecht eingestellt und jede, auch die schmutzigste Arbeit mußte ich verrichten. Ich besuchte dabei die Dorfschule und beschämte häufig meinen Lehrer durch Besserwissen. Auf dessen Betreiben, im Verein mit dem Herrn Pfarrer, wurde dieser Zwischenakt abgeschlossen und verabredet, daß ich die Lateinschule in Balingen besuchen sollte.

Ich komme noch auf meinen Freund, den Gänsehirten, zurück. Vor zwei Jahren habe ich bei einem Besuche von Margrethhausen denselben als wohlbestallten Briefträger Ernst Mayer aufgefunden. Welch‘ unverhoffte Freude beiderseits. Derselbe erzählte: „Weischt Hermann, dort enüber auf der Weid’, wo ich die Gänse hütete, kamscht Du gelaufen und erzähltest wunderschöne Geschichtle, was Du als werden willscht und daß Du in Indien Tiger schießen und ein reicher Kaufmann werden willscht“. Vor dem Hause unseres damaligen Nachbars Chairer saß im heißen Sonnenscheine ein altes Weible; ich setzte mich zu ihr und fragte, ob sie sich des Försters Hommel noch erinnere. „Jo freile, und Du bist der Herrle“, war ihre Antwort. „Was warst Du ein knitzes Büble, Deine Streiche sind noch unvergessen“. Nach kurzer Zeit versammelten sich die wenigen noch lebenden Altersgenossen und groß war die Freude im Austausche unserer Jugenderinnerungen. Namentlich erfüllte mich mit Genugtuung das Andenken meines Vaters als großen Ehrenmann unter diesen einfachen aufrichtigen Menschen.

Ich machte auch einen Ausflug nach Burgfelden auf den Böllatfelsen, den Nachbar der Schalksburg, erste Niederlassung der Hohenzollern. In diesem Gebiete befindet sich der Waldschutz-Bezirk, welchen mein Vater verwaltete. Eine wunderbare Aussicht eröffnet sich von diesem Punkte auf das Eyachtal mit den flankierenden schroffen Bergen, welche hochinteressante, pittoreske Felsengebilde tragen bis zu einer Höhe von 1000 Metern, in weiter Ferne blauen die Höhen des Schwarzwaldes. Ich empfehle dringend den Besuch dieser genußreichen Landschaft.

In Balingen besuchte ich nur kurze Zeit die Lateinschule. Ich kaufte vor zirka 25 Jahren in Bitz bei Ebingen die Einrichtung zur [Seite 75] Wasserwagen-Fabrikation von einem Herrn Rehfuß. Derselbe war in Balingen mein Schulkamerad, dessen Reichtum in meiner damaligen Einbildung unerreichbar war. So ändern sich die Verhältnisse.

Mein Vater war inzwischen kränklich geworden und wurde im besten Schaffensalter pensioniert. Wieder gesund geworden, wurde er auf Grund seiner guten Zeugnisse als Stadtförster von Waiblingen mit dem Sitze in Buoch angestellt. Die Morgenröte eines sorgenlosen Lebens, eine Idylle des köstlichsten Landaufenthaltes war aufgegangen, alle Register der Freude ziehe ich auf.

Bevor ich von Margrethhausen scheide, will ich noch eine kleine Erzählung als Zeitbild einflechten, zum Beweise der Sorglosigkeit, welche bei den guten Sitten der damaligen Zeit das Leben gestaltete. Ich durfte eine Ferienreise zu den Verwandten im Unterland machen und wanderte als ein zwölfjähriger Junge mit dem Ränzchen auf dem Buckel und kleinem Taschengelde den ersten Tag über Balingen, Hechingen nach Tübingen; vor dem Endziele, in dem Dorfe Derendingen, saß der Herr Pfarrer vor der Türe, behaglich die lange Pfeife rauchend. „Wo geht die Reise hin Büble?“, war seine Frage. Große Verwunderung über meine Kühnheit und die Arglosigkeit meiner Eltern. Ich mußte dann bei ihm übernachten und wanderte den zweiten Tag nach Waldenbuch, um Station bei einem Herrn Vetter zu nehmen, von da per Post nach Stuttgart; wie ich den Weg durch diese Stadt nach Untertürkheim fand, ist mir heute noch unbegreiflich. Auf diesem Platze war mein Onkel Carl Maeulen der Herr Schultheiß, das Muster des gemütlichen schwäbischen Beamten, hier habe ich auch zum erstenmale in meinem Leben Weintrauben gegessen. Der schwierigste Teil der Reise war noch zu überwinden. Von Vettern zu Basen wanderte ich weiter; wie meine Cousine Haakh-Heilbronn erzählte, kam abends ein munterer Junge ins Haus, dessen Vorstellung war: „Ich bin der Hermann und ich soll einen, schönen Gruß ausrichten vom Onkel August“ (meinem Vater). Natürlich war die Verwunderung groß. Das Fuhrwerk von Onkel Bruckmann, Hammerwerk Eisenlautern, war zufälligerweise da, die Gelegenheit wurde benützt, und ich fuhr dem Endziele meiner Reise entgegen. Unverhofft kam ich mitten in der Nacht an und wurde herzlichst aufgenommen.

Damals und heute, welcher Wandel der Zeiten! Früher Einfachheit, Zufriedenheit, jetzt abgelöst durch krassen Egoismus, welcher seine [Seite 76] Lüsternheit auf Genußsucht durch Unzufriedenheit und Unmoral aufbaut. — Auf der Heimreise wurde ich dann wieder von Verwandten zu Verwandten spediert. Die schwäbischen Vettern und Basen sind ein gemütvoller, sympathischer Einschlag in diesem Volkscharakter. —

Buoch, heute ein Luftkurort, liegt über dem Remstale in fruchtbarer Gegend, ein Land wo Milch und Honig fließt, Obst, Wein in Hülle und Fülle, ein Paradies für einen Jungen von 12 Jahren. — Eine wunderbare Aussicht eröffnet sich dem Remstale entlang mit seinen freundlichen Ortschaften, im Hintergrund durch Stuttgart abgeschlossen, direkt gegenüber der Schurwald, über diesen hinweg der Ausblick auf die Berge der schwäbischen Alb vom Hohenstaufen bis zum Hohenzollern. Die Herrlichkeit eines Naturbildes, welches, in mein junges Herz eingeprägt, in gleicher Deutlichkeit und Frische fortlebt. Die schönste Zeit meiner Jugend verlebte ich in Buoch. Wir wohnten in einem Hause, welches mein mütterlicher Urgroßvater, auch ein Förster, erbaute, ausgestattet mit allen Bequemlichkeiten, großem Gemüse- und Obstgarten; was gönne ich meinen Eltern die damalige köstliche Zeit.

Als Lateiner wanderte ich wieder jeden Tag 1 1/2 Stunden nach Winnenden hinunter und herauf, bei jeder Witterung, Wind und Wetter. Dieser Lebensweise verdanke ich die große Kraft und gute Gesundheit, welche mich durchs ganze Leben begleiteten und von welchen ich jetzt im hohen Alter noch den kleinen Rest verzehre. Bei meinen Schulkameraden war ich der Lieferant der jungen Vögel und anderer Herrlichkeiten des Waldes, welche die Seelen der Jungen erfüllen. In Winnenden ist eine große Irrenanstalt. Auf meinen Wegen zur Schule begegnete mir häufig ein Insasse derselben, Graf Neiperg, der Schwiegersohn des Königs Wilhelm. Derselbe hat sich oft mit mir unterhalten und mir einmal einen Sechsbätzner geschenkt. Auch das Wohlgefallen einer alten harmlosen Dame hatte ich mir erworben. Dieselbe besuchte einmal meine Mutter mit dem Wunsche, mich an Kindesstatt zu kaufen. Inzwischen kam die Konfirmationszeit 1864 und das Ende der Schulzeit.

Im Bilde von Buoch darf mein Freund, der David, nicht fehlen, ein Zwerg, welcher seinen Unterhalt durch Stricken von wollenen Jacken verdiente. Wir waren ein Herz und eine Seele. Gar häufig lagen wir zusammen im Sonnenschein an einem Rain und schauten hinaus in die weite Welt; ich kam ins Fabulieren, meine Zukunftspläne wanderten wieder zum künftigen Nabob von Indien und glänzende Aussichten [Seite 77] standen meinem Freunde bevor, welchen ich mit Pauken und Trompeten abholen wollte. — Das Leben mit seinen Kämpfen rauschte vorüber, im Alter pochen die Jugend-Erinnerungen mit großem Verlangen an das Herz und so wanderte ich nach 52 Jahren den Weg von Grunbach hinauf nach meinem Jugend-Idyll, in tiefer Wehmut gedenkend all’ der Lichtgestalten der damaligen Zeit, welche mich auf meinem Lebensgang beglückten. — Unterwegs begegnete mir eine alte Frau mit der Weinbergshacke auf der Schulter. Auf meine Fragen stellte sich heraus, daß sie einst als Kindermädchen bei meinen Eltern gedient hatte. Die Freude nach der Aufklärung meiner Person war rührend, sie konnte kaum glauben, daß der nie vergessene Hermann wieder aufgetaucht war und jetzt vor ihr stand. Oben im Dorfe angelangt, suchte ich das Elternhaus auf und tiefe Wehmut erfasste mich bei seinem Anblick. Die Inhaberin des alten Jägerhauses, der heutigen „Gastwirtschaft zum Hirsch“, Maria Frank, geb. Baum, eine außergewöhnlich tüchtige und rührige Persönlichkeit, konnte sich bei meiner Aufklärung kaum fassen; ich selbst wurde auch übermannt, wir weinten erst ein Stückchen zusammen, hörten aber nachher nicht auf mit Erzählungen aus der Vergangenheit und Gegenwart. Wenn ich daran zurückdenke, wird es mir warm ums Herz. Marie wurde mit mir zusammen konfirmiert und knieten wir vor dem Altar bei der Einsegnung. Auch Marie war Dienstmädchen bei meiner Mutter. — Ich suchte nun nach weiteren Altersgenossen und bald saßen wir, ein Häuflein alter Männer, beim Schoppen zusammen, gar lustig waren die Erzählungen aus der Jugendzeit. Der Hauptspezel sagte: „Wißt Ihr noch, Ihr Freunde, wie der Hermann beim Jägerlesspielen uns durchgeprügelt hat und heute sitzt er zwischen uns, der Herr Kommerzienrat“.

Es ist mir eine große Genugtuung, daß ich später mit meiner lieben Frau und meinem Sohn Karl Buoch nochmals aufsuchte. —

Die Geschichte wird etwas lang, es darf aber das Wiedersehen mit meinen Schulkameraden in Winnenden nicht vergessen werden. Zuerst besuchte ich den Klenkle; auf meine Vorstellung tanzte der Mensch wie verrückt im Zimmer herum, fiel mir um den Hals und weinte und lachte. Die Frau mußte gleich in den Keller steigen, eine Flasche vom besten Weine holen, der noch lebende kleine Rest unserer Schulklasse wurde zusammengerufen. „Nein so was, der Hermann, der Galgenstrick ist bei uns, wer hätte das gedacht, und als großer Herr! Wie oft [Seite 78] haben wir davon gesprochen, wo mag der Mensch nur hingekommen sein!“ Nur zu rasch entschwanden die wenigen Stunden und adje, Ihr lieben Kumpanen, auf Nimmerwiedersehen, — denn heute bin ich der einzig Überlebende. Adolf Zorn und Gottlob Jent waren die bevorzugten Freunde. Hell leuchtend stehen die Schultage vor dem geistigen Auge und manche dunkle Stunde, welche in den alten Tagen das Gemüt bedrückt, wird durch diese Erinnerung erhellt. —

Nun kommt der Übergang in die

Kampfzeit meines Lebens!

An einem schönen Maimorgen — die ganze herrliche Landschaft in ihrer Frühlingspracht steht noch vor meinen Augen — nahm ich von der Heimat, begleitet von dem Segen meiner Eltern, Abschied. Als Reisegeld hatte ich einen Kronentaler in der Tasche, selbst verdient durch Kulturarbeiten im Walde. (Beim Wiedersehen im Alter habe ich diese Strecke als hohen Fichtenwald gefunden.) Dieses Geld war der Hegepfennig und die einzige Kapital-Anlage für meine Lebensreise. —

Die sorgenlose Zeit der Knabenjahre war vorüber. Durch den Übergang in die kaufmännische Lehrzeit kamen die Pflichten. Ich wanderte, mit Proviant gut ausgestattet, über Backnang, das schöne Murrtal entlang, in das Lautertal zu Onkel und Tante Bruckmann in Eisenlautern. Tante Luise, welche mich sehr ins Herz geschlossen hatte und meine Schwester Luise, welche ihr Gesellschaft leistete, führten die Haushaltung in dem herrschaftlichen Heimwesen. Ich hatte immerhin einen Weg von acht Stunden zurückgelegt und war die Verwöhnung nach meiner Ankunft wohlverdient! Den darauffolgenden Tag strebte ich dem Endziele zu und trat meine dreijährige Lehrzeit bei C. F. Rettich in Wüstenroth an. Unser Geschäft war das Mädchen für alles. Es gab kaum einen Artikel des Lebensbedarfs, welchen wir nicht führten. Hauptsächlich waren die Hausierer der Gegend unsere Abnehmer. Durch Verkauf von Haus zu Haus und auf den Jahrmärkten in Süddeutschland wurde ein großer Absatz erzielt, dessen Deckung uns viel Arbeit erbrachte. Der Prinzipal an der Spitze besorgte mit 12 Lehrlingen ohne Kommis, ohne Hausknecht oder sonstige Hilfskraft, alle, auch die untergeordneten Arbeiten. Letztere waren das Gebiet der jüngsten Lehrlinge. Damals gab es noch Tage mit 12 und mehrstündiger Arbeitszeit; es galt als eine Selbstverständlichkeit, auszuhalten, [Seite 79] bis der Tisch rein war. In dem patriarchalischen Verhältnis fanden die Interessen der Firma gleiche Wertung wie die eigenen und man freute sich, wenn die Geschäfte gut gingen. Die Sonntage bildeten die Erntezeit, als Mittelpunkt der ganzen Umgegend wurden die Einkäufe bei uns gemacht. Ich erinnere mich, daß wir oft erst mittags 4 Uhr Zeit fanden, zu essen. Wir lernten arbeiten, hatten Freude an der Arbeit, wurden praktisch in den Leistungen; Büroarbeiten blieben ein Buch mit sieben Siegeln und doch waren die Lehrlinge aus dem Hause Rettich gesuchte Arbeitskräfte.

Einige Anekdoten will ich hier beifügen. Wo zwölf junge Leute vereinigt sind, ist jugendlicher Übermut und Unfug eine natürliche Folge. Es war eingebürgerter Brauch, daß der jüngste Lehrling vor Einführung eine Kraftprobe ablegen mußte. Zu dieser Feststellung wurde er von den Älteren des um ein Jahr vorausgegangenen Jahrganges verprügelt. Bei mir kamen aber die Jünglinge an die unrechte Stelle; ich stieß den Beiden die Köpfe zusammen, daß ihnen, wie man sagt, das Feuer aus den Augen sprühte, und so war meine Autorität festgestellt. — Durch den amerikanischen Krieg war großer Mangel an Harz und dadurch an Wagenschmiere, einem besonders bevorzugten Hauptartikel. Nun lag ein großer Posten alter, unverkäuflicher, hart gewordener Wagenschmiere im Magazin; für das Umpacken in kleine Tönnchen war kein Mann zu haben und wurde ich für diese eklige Arbeit herangeholt. Als Protest zog ich einen guten Anzug an und schuftete darin zwei Wochen lang; die Hosen konnten durch die anhaftende Schmiere auf den Boden gestellt werden, mit penetrantem Geruch behaftet. Dann rannte ich zu Onkel nach Eisenlautern, stellte mich vor und erreichte den Zweck, daß bei meinem Prinzipal reklamiert wurde. — Eine zweite Arbeit! Unser Mehl-Lager, zirka 200 Zentner, war dampfig und dadurch hart geworden. Ich war wieder das Karnickel, welches herangeholt wurde; ich mußte das Mehl mit Hammer und Wellholz zerklopfen, sieben und dann wieder mischen. Bestäubt wie ein Müller, habe ich mich wieder zwei Wochen lang dieser Arbeit unterzogen. Die Mischungsgeheimnisse waren überhaupt eine Sache für mich; in Herstellung der verschiedenen Schnupftabaksorten war ich unübertroffen.

Die Kassen-Einnahmen bestanden in der Hauptsache aus Silbergeld; Sonntage mit einem Eingänge von 5000 Gulden waren nicht selten. [Seite 80] Die Sortierung des Geldes geschah mit einem verschiedenmaschigen Siebe. Das Geld, oft einen halben Zentner schwer, mußte ich auf die Post nach dem 1 1/2 Stunden entfernten Löwenstein tragen, auch ein Zeichen der Zeit, daß man sorglos einen jungen Menschen mit solchen Werten allein durch die Wälder laufen ließ. Ich führe diese Einzelfälle unter vielen nur an, als Nachweis der Pflichtauffassung von damals gegen heute. Unsere jungen Kaufleute der Jetztzeit würden zweifellos gegen derartige Zumutungen auf das energischste protestieren. Das Endergebnis vom Vorwärtskommen steht aber gegen die gute alte Zeit zurück. Meine Verehrung und Dankbarkeit gegen meinen Lehrprinzipal ist nicht getrübt und ich denke gerne an diese Zeitperiode zurück.

Nach einer Abwesenheit von 50 Jahren suchte ich auch Wüstenroth wieder auf, begrüßte den Sohn von Herrn Rettich als Geschäfts-Nachfolger, welcher zu meiner Zeit ein kleiner Junge war, sowie noch einige Altersgenossen und freute mich zu hören, daß mein Andenken fortlebte. — Tempi passati.

Die drei Lehrjahre waren verflogen; ich meldete mich um eine Kommisstelle bei G. Conrad in Illingen bei Mühlacker. Zu einer persönlichen Vorstellung ins Bahnhof-Hotel nach Heilbronn bestellt, übte ich zuerst vor dem Spiegel meine Vorstellungs-Komplimente ein und wanderte dann früh am Morgen auf fünfstündigem Weg meinem Ziele zu, das mich siebzehnjährigen jungen Mann einer selbständigen Zukunft entgegenführen sollte. Ich erfreue mich heute noch an meiner damaligen Naivität und Welt- und Formenfremdheit. — Herr Conrad, ein jovialer, gemütlicher Mann, ließ mich beim Empfange nicht zu Worte kommen, meine einstudierte schöne Vorstellungsrede fiel ins Wasser. Ich mußte vor allen Dingen tüchtig frühstücken, die darauffolgende kurze Unterhandlung führte rasch zum Abschlusse und ich wurde angestellt mit einhundert Gulden Jahresgehalt, frei Station und einen Kirchweih-Sonntag im Jahre frei. Arbeitszeit: Sommer morgens 6 Uhr (Winter 8 Uhr) bis abends 10 Uhr. Solche Arbeitsleistungen waren eine Selbstverständlichkeit; man konspirierte nicht, und die jungen Leute leisteten ihre Pflicht in Zufriedenheit, gegenüber dem heutigen Standpunkte der Achtstundenarbeit und Mißbrauch der freien Zeit. —

Ich führe noch an, dieses Geschäft hatte den gleichen Charakter wie bei Rettich, außer mir bewältigten ein Ladenmädchen und ein Lehrling die Arbeit. Illingen, ein großes, wohlhabendes Dorf in reicher Gegend, [Seite 81] bildete durch unser Geschäft den Mittelpunkt für den Einkauf, wir hatten großen Umsatz, namentlich in Manufakturwaren. — Ich erinnere mich noch an den Kirchweih-Sonntag mit meinem kläglichen Erstlingsversuch im Tanzen, sowie auch an die Einführung der Petroleum-Beleuchtung. Ich mußte Abend für Abend von Haus zu Haus, die Bauernweiber im Anstecken der Lampen unterrichten; daß dabei viel Unsinn getrieben wurde, ist natürlich. — Auch entdeckte ich mein Herz und schwärmte für ein nettes, liebes Kind, sogenannte höhere Tochter, welche sogar ein Pensionat besucht hatte. Bei meiner Erinnerungsrundreise habe ich dieselbe nach fünfzig Jahren als würdige Witwe und deren Bruder, meinen Jugendfreund Gottlieb, ein prächtiger, feiner Charakter, als gebrechlichen Mann angetroffen. Die gegenseitige Freude und das Aufgehen in Jugend-Erinnerungen war groß.

Als Leitfaden für meine Entwickelung hatte ich mir den Grundsatz aufgestellt, auf einer Stelle nur so lange zu bleiben, als ich meine Kenntnisse vermehren konnte. So suchte ich nach dreiviertel Jahren eine andere Stelle und fand solche um eine Stufe höher bei Fr. Groß jr., Beschläge-Fabrik in Schw. Hall. Ich wurde angestellt als „Mädchen für alles“ und hatte allein alle kaufmännischen Arbeiten zu erledigen. Ich möchte sagen, ich war ein Frechdachs, denn eingehende Bureau-Fachkenntnisse besaß ich noch nicht, aber mit festem Willen geht alles und so habe ich zur Zufriedenheit meines Prinzipals gearbeitet. Ich erhielt einhundertfünfzig Gulden Gehalt bei freier Station, also schon ein großer Fortschritt. — Hall ist eine hochinteressante, alte Stadt, bekannt durch eine liebenswürdige, lustige Bevölkerung. Seither in der freien Zeit und Pflege der Geselligkeit eng beschränkt, hatte ich jetzt mehr Freiheit. Ich schloß mich dem Turnvereine an und verlebte schöne Stunden in diesem Kreise, voll begeistert für das Ideal der Sache. Ich lernte einen prächtigen jungen Menschen, Hermann Weischedel, kennen und innige, treue Freundschaft hat uns durchs Leben verbunden. Sein hoher Gedankenflug und seine vornehme Lebensauffassung paßte freilich nicht in diese materielle Welt. Er hatte später mit großen Sorgen um seine Existenz zu kämpfen und ist, nachdem er kaum das Mannesalter erreicht, gestorben. Sein Andenken begleitet mich treu bis zum Lebensende. Ich verlebte mit ihm die Feier des großen württembergischen Turnfestes, welches, glanzvoll veranstaltet, allseitige Zufriedenheit auslöste. Am Schlusse des Festes aber war die Barschaft von uns [Seite 82] Beiden verjubelt und wir hatten keine drei Kreuzer mehr, um ein Glas Bier zu trinken. Ich war zum Fahnenträger unseres Vereines auserkoren, die Ehre nahm aber ein Haller Bürgerssohn für sich in Anspruch und ich mußte zurücktreten. — Spießbürgertum damals wie heute.

Bevor ich von Hall scheide, widme ich noch den Ausdruck meiner Verehrung und Dankbarkeit meiner lieben Patin, Frau Luise Dötschmann, Sägewerkbesitzerin, welche mir jungen Menschen viel Liebe erwies und deren Leitung mich unerfahrenen Menschen vor manchen Dummheiten bewahrte. Die eine Tochter war ein liebes, gutgezogenes Kind, wogegen der Sohn viel Kummer und Herzeleid bereitete.

„Sorget nicht für den anderen Tag, der morgende Tag wird für das Seine sorgen“. Ich konnte überzeugt sein, daß meine nunmehr erworbenen Kenntnisse höhere Ansprüche stellen konnten. Als Delegierter des Haller Turnvereins reiste ich zu einer Sitzung des Turnvereins Heilbronn. Ich stand im Anfang des 19. Jahres und war in meiner Bedeutung über dieses Alter hinausgewachsen. Diese Gelegenheit benützte ich, mich bei Herrn Fr. Ed. Mayer, im ganzen Lande als Eisenmayer bekannt, vorzustellen und zwar in meinem Turn-Habit, frisch, fromm, fröhlich, frei. Diese Ursprünglichkeit hat jedenfalls meine Bewerbung unterstützt und erhielt ich eine Stelle als Verkäufer mit dreihundert Gulden Gehalt und freier Station. Mein Stolz und Glück über diesen Erfolg ist nicht leicht zu ermessen, hatte ich doch nun auch Mittel in der Hand, meine Eltern zu unterstützen. Zum Abschied stiftete ich meinen Haller Freunden ein Faß Bier und den anderen Morgen reiste ich unter dem Drucke eines Mordskaters in die neue Stelle ab. Ich fand in dieser viel Arbeit und reiche Gelegenheit zum Lernen. Abends 7 Uhr wurde das Geschäft geschlossen; meine freie Zeit benützte ich zum Teil zu Selbststudien, um dem Mangel an Büro-Kenntnissen abzuhelfen, den Rest ausschließlich zur Pflege meiner vielgeliebten Turnerei. „Gut Heil“ dieser edlen Sache, welche Körper und Geist frisch und stark erhält und die Jugend vor Abwegen bewahrt.

Ich hatte mich bald in die neuen Verhältnisse eingelebt und als temperamentvoller Bursche einer allgemeinen Zuneigung zu erfreuen. Als Vorturner der Zöglinge befriedigte mich ein Feld voll zusagender Betätigung. Besondere Freunde waren der Turnlehrer Hohenacker, Heine Hahn und mein vielgeliebter Kiel, ein tüchtiger Mensch mit allerbesten Grundsätzen. Friede Eurer Asche! — Es war eine [Seite 83] köstliche Zeit dieser Aufenthalt in Heilbronn. Zum ersten Male auf einem größeren Platze in gutem Hause mit Familienumgang bei meinen Verwandten, Familie Haakh, erweiterte sich mein Gesichtskreis; ich kam mehr in die Form und Kultur des Geselligkeitslebens. Ich erinnere mich noch lebhaft des Eindruckes, als ich zum erstenmal das Theater besuchte. Natürlich lernte ich auch tanzen und darf ich wohl rühmen, daß ich als flotter Tänzer und lustiger Hofmacher mich besonderer Gunst im Kreise der jungen Mädchen erfreute. Eine derselben, Johanna, übte die höchste Anziehungskraft auf mich, mein Herz war voll entflammt, die Verehrung und der Ausdruck meiner Liebe äußerte sich in bescheidener Zurückhaltung und lange Zeit war nötig, mich stark zu machen für eine hochideale, platonische Annäherung. Als ein Heiligtum wohnt die Erinnerung an diese schöne Zeit in mir fort. Die Dame ist schon längst tot. Eine herzliche Freundschaft verbindet mich noch mit ihrem Bruder.

Der Krieg 1866 trat in unseren Gesichtskreis und wir Turner stellten uns in den Dienst der Verwundetenpflege. Die Preußen waren in die Nähe vorgerückt, Neckarsulm bildete die Demarkationslinie. Welche abenteuerlichen Pläne und Hirngespinste beherrschten uns. „Gebt uns Waffen“ forderten wir Turner. Glücklicherweise siegte die Vernunft der Alten über unseren Unverstand. — Noch gar Vieles könnte ich erzählen von diesem Jugend-Eldorado, der Raum verlangt aber Beschränkung.

Herr Kommerzienrat Rud. Böcking auf der Asbacherhütte tritt jetzt in die Erscheinung und neue, andere Verhältnisse geben mir die Richtung nach der Spitze der Lebenshöhe, welche zu erklimmen ich mir zur Aufgabe gestellt hatte. Der genannte, für meine Begriffe sehr hohe Herr ersuchte meinen Prinzipal um Nachweis eines passenden jungen Mannes für sein Büro. Ich bekam davon Kenntnis; halt, dachte ich, diese Gelegenheit kann mir passen. Auf meine Bitte, mich vorzuschlagen, wurde ich zur persönlichen Vorstellung nach Stuttgart ins „Hotel Royal“ berufen. Das Resultat war meine Anstellung mit einem Gehalt von dreihundert Talern, freier Wohnung, Brand, Licht; für die Kost hatte ich zehn Taler im Monat dem Verwalter zu vergüten. Es war im Monat April 1867 als ich mich mit Stolz dieses neuen Erfolges rühmen durfte. „Was für ein Glück, Mensch, hast Du“, beneideten mich meine Kollegen. Ja, Glück ist, wenn man mit verbundenen Augen ein einziges schwarzes Schaf aus einer großen Herde weißer Schafe [Seite 84] mit einem Griff als Preis heraussucht. Mein Glücksbegriff wurzelt in dem Gedankengang, mehr arbeiten, als der Durchschnitt, einem hohen Ziele zustreben, die ganze Kraft für eine Sache einsetzen, wohlüberlegte andere Wege gehen als der Durchschnittsmensch, eigenartig ein Arbeitsfeld gestalten, Intelligenzen so viel als möglich als Mitarbeiter in Dienst stellen, diese gut behandeln und bezahlen. Der Erfolg bleibt nicht aus, und dieser wächst im Fortschreiten. Ausnützen günstiger Gelegenheiten, die Schwächen des Gegners erkennen und vor allen Dingen reell und anständig das allgemeine Vertrauen erwerben. Diese Prinzipien waren mein Glücksrezept.

Ich schied von meiner liebgewordenen Stelle, machte einen kurzen Abschiedsbesuch bei den lieben Eltern in Eningen. Beim Weggehen setzte es viel Ermahnungen und Tränen ab, namentlich die gute Mutter konnte sich nicht fassen bei dem Gedanken, daß ihr Liebling „in den wilden Hunsrück zu den Preußen“ wanderte. Ich reiste über Heilbronn zurück, es war zu meinen Ehren ein großer Turner-Kneipabend veranstaltet, für mich wehmutvolle, bittere Stunden, diese Trennung von den Freunden, von all‘ dem Schönen, Lieben, welches den Inhalt meines Herzens umfaßte. Um Mitternacht begleitete mich mit Fahnen, Musik und Gesang die Turnerschar nach dem Bahnhofe. Heilige Versicherungen ewiger Freundschaft und Wiedersehen, Wiedersehen, stiegen gegen den Sternenhimmel. Nach fünfzig Jahren habe ich von der munteren Gesellschaft nur noch drei alte Männer angetroffen. — Lebewohl, Lebewohl, du liebe, schöne, schwäbische Heimat! Hie gut Württemberg alleweg. —

In sehr niedergedrückter Geistesverfassung, voll Heimweh, kam ich am frühen Morgen nach Mainz. Eine Stunde Aufenthalt benützte ich zum Durchwandern der Stadt und kann ich mich genau erinnern, daß der Weg durch die Augustinerstraße führte, nicht ahnend, daß ein liebes Kind da schlummerte, welches der Preis meines Strebens werden und das höchst erreichbare Lebensglück für mich bedeuten sollte. — Nachmittags lief der Zug in Fischbach a. d. Nahe ein; ich war noch erfüllt von dem Eindruck des herrlichen, zum erstenmal gesehenen Rheines, sowie des hochromantischen Nahetales, beim ersten Ausflug in die Welt. In der Post-Wirtsstube traf ich einen Bauern, welcher ein Glas Zuckerwasser trank; diesen niederschmetternden Eindruck als Wertmesser der ganzen wirtschaftlichen Verhältnisse kann ich nicht vergessen. Welcher Kontrast gegen mein weinfröhliches Heilbronn!

[Seite 85] Nach einer interessanten Postfahrt durch das Fischbachtal mit dem allbekannten Kondukteur Müller, dessen Andenken ich hier festnageln will, rückte ich in der alten Asbacherhütte ein. Hier stand ich nun vor dem eigentlichen Wendepunkt meines Lebens. Welch’ eine Fülle von Gedanken durchflutet mein Hirn! Von dem patriarchalischen Leben des gemütvollen Schwaben der Übergang zu dem feudalen Auftreten des großen Hüttenherrn. Die Überzeugung dämmerte, daß ich auf einen anderen Ton eingestimmt wurde, mit dem Folgesatz, daß Ernst und Überlegung die seitherige Naivität und Gefühlsduselei ablösen und ich in die neuen Verhältnisse mich finden müsse.

Einsam im Waldtale, abgeschlossen gegen die Außenwelt, im Mittelpunkt einiger Dörfer, war die Lage der Hütte und der Verkehr zwischen Herrschaft, Beamten und Arbeitern in der Höhenschätzung abgegrenzt, dennoch bildete sich ein harmonisches Ganzes mit ausgeglichenem Ineinanderleben, ein jetzt entschwundenes Idyll, aufgefressen durch die Groß-Industrie. — Hier kleine, persönliche Verhältnisse, eine Heimstätte der Zufriedenheit und Genügsamkeit, dort die Sache als Herrscherin und Ausschalten der Person, kalte Vernunft, die Unterlage für Unzufriedenheit.

Der Herr Kommerzienrat war ein etwas heftiger, leicht zu beeinflussender Mann, dessen Herzensgüte aber unsere Verehrung und Hochachtung anerkannte, die gnädige Frau eine vornehme, feine Dame, bei welcher ich durch prompte Besorgung ihrer privaten Aufträge gut angeschrieben war, ein Fräulein Tochter, Lisli, ließ ab und zu einen Sonnenstrahl der Anrede über mich ergehen, sie war für mich das Symbol stiller, uneigennütziger Verehrung. — Von den Beamten nenne ich zuerst meinen alten Freund Brünings, den Hütten-Buchhalter. Dieser Typ, kindlich, weltfremd, unpraktisch, mit goldenem Herzen, ist ausgestorben. Sein Lebensbegriff war das Familienleben, seine Frau einfach tüchtig, treu besorgt. Ich verlebte manch‘ vergnügte Stunde in diesem Kreise und disputierte mit dem Politiker Brünings, welcher sich einbildete, großer Demokrat und Kirchenfeind zu sein. Er ruht in Kaiserslautern, allwo er, über 90 Jahre alt, gestorben ist. — Ein Original. Es folgen Büro-Vorsteher Schwickert, der Expedient und Reisende Neumeyer, der Hütten-Techniker Helfenstein und an dessen Stelle Herr O. Kohlschütter; sie sind alle dahingegangen. Letzterer verlebte seine Altersmuse als Hüttendirektor a. D. in Wertheim a. M., eine [Seite 86] hochgebildete, feine Persönlichkeit, mit welcher ich in freundschaftlicher Verbindung stand. Ich könnte ein ganzes Buch füllen mit niedlichen Geschichten aus dieser Zeit, beschränke mich aber auf die Jagd, welche eine Hauptrolle im Leben und Treiben auf der Hütte spielte.

Ein echtes, gerechtes Jägerleben füllte jede freie Stunde aus. Wir hatten ein großes Revier, besetzt mit Hirschen, Sauen, Rehwild, auf den Feldern Hasen- und Hühnerjagd. Das war Wasser auf die Mühle für mich, den Sprossen eines alten Jägergeschlechtes. Kernige Erinnerungen aus dieser Zeit steigen auf, wenn ich hinüberschaue auf den Böckingswald; Hirschbrunst, Treibjagden geben Stoff zu einem ganzen Band. Ich denke dabei an den jüngsten Sohn des Hauses, Hugo, ein lieber Mensch, welcher in der Jagd vollständig aufging. — Das Jagdvergnügen kann zur Leidenschaft werden und läßt den Menschen nicht leicht los. Hugo blieb der treueste Diener Dianas. Wir wurden im Mannesalter intime Freunde. Seine Frau war im Haushalte und Geschäfte überaus tüchtig. Nach ihrem Tode aber fehlte der Halt und beschleunigte das Ende dieser über der Alltäglichkeit stehenden Persönlichkeit.

Ich erinnere mich hier eines gelungenen Scherzes. In der Brunstzeit der Hirsche waren einige junge Damen auf Besuch. Diese wollten gar zu gerne die Hirsche schreien hören. Abends durch den Wald ins Jagdhaus geführt, erregte die ganze Situation schon an und für sich bei den Stadtkindern eine schaurige Stimmung. Da — plötzlich ein mächtiger Brunstschrei des Hirsches mit Antwort von einem Rivalen und dann eine Zeitlang gegenseitiges Anbrüllen. Schrecklich! Diese beiden Hirsche aber waren ich und mein Freund Karl Löh, welche mit Hilfe der Gießkanne den Spektakel machten. Haarsträubende Geschichten von diesem Abenteuer brachten die jungen Damen nach Hause. Mit Löh hat mich eine Freundschaft bis ins späte Alter verbunden. Er ruht schon seit Jahren auf dem Friedhofe in Schauren.

An Stelle der Blasiertheit der Stadtkinder blieben wir fröhliche, gesunde, junge Leute, und auf den Tanzböden der Dörfer willkommene Gäste. In Kempfeld, Schauren, Herrstein hatten wir unsere Niederlagen und wurden mit großer Gastfreundschaft aufgenommen. Familie Woytt und Du, mein guter alter Ferdinand, Familien Hch. Fuchs, Keßler und Fickus, welch’ fröhliche Stunden verlebte ich in Eurem Kreise! Von all’ diesen Altersgenossen lebt noch der Letztgenannte im Alter von 85 Jahren. — [Seite 87]

Etwa zwei Jahre dauerte dieser Aufenthalt, als nach der Rückkunft des ältesten Sohnes, Rudolf Böcking, aus England, die Frage der Auflassung der Asbacherhütte beschlossen wurde. Durch Fehlen der Eisenbahn war es nicht mehr möglich zu konkurrieren, und die Jugend wollte mit neuer, frischer Schaffenskraft das Alte ablösen. Ein neues Werk, die Halbergerhütte bei Saarbrücken, war im Bau begriffen und wurde die Einrichtung der Asbacherhütte dorthin übergeleitet. Als Zeugnis meiner Leistungen und Verwendbarkeit war ich der einzige Beamte, welcher in die neuen Verhältnisse aufgenommen wurde. Ich hatte den Umzug zu leiten; mein eigentliches Arbeitsfeld war, die Magazin- und Lohnarbeiten zu erledigen. Am 17. Oktober 1835 wurde die Asbacherhütte von Friedrich Philipp Stumm auf seinen Enkel Rudolph Böcking übertragen.

Auf dem Asbacher Friedhofe sind, was ich als historische Erinnerung noch einfüge, aus diesen Zeiten folgende Grabdenkmäler:
Heinrich Rudolph Böcking Königlicher Kommerzienrat und Eisenhüttenbesitzer geb. 5. September 1810, gest. 7. September 1871.
Frau Luise Böcking, geb. Hildebrand geb. 19. Oktober 1817, gest. 11. April 1901.
Peter Veit Willenweber, Kirchberg. Zur Anerkennung treu geleisteter Dienste wurde dieses Denkmal errichtet von Gebrüder Böcking. 1827—1859.
Luise Mayer, geb. Köster (eine Mainzerin) eine Perle ihres Geschlechtes, geb. 3. Februar 1782, gest. 17. Juli 1818.
A. F. Pfender, Hüttenschreiber geb. 28. Mai 1814, gest. 31. Oktober 1841.
Auch ein Grabstein von Frau Wacker, Tochter eines Bürgermeisters in Herrstein und Ehefrau des Reisenden Wacker soll nicht vergessen sein.
Jm. Löh. Hammerschmied, Asbacherhütte geb. 1748, gest. 1839.
Dazu noch einige Notizen, erhalten von Herrn Viktor Purper in Idar:
Herr Joh. Carl Stumm, Hüttenmeister auf der Aspacher Eysenhütte
Herr Friedrich Stumm, Hüttenmeister auf dem Eysenhammer Birkenfeld
als Paten (13. I. 1777) bei einem Kind des Amtmanns Ruppentahl (Wildenburg) im Veitsrodter-Kempfelder Kirchenbuch genannt.
Herr Friedrich Stumm, Hüttenherr auf Hammerbirkenfeld bei Schauren
Herr Christian Stumm, candidatus juris des evangl. Herrn Commerzienraths Stumm von der Asbacher Hütte nachgelassener Sohn
als Paten bei einem Kind des Pfarrers Troß am 15. V. 1785 im Sensweiler-Kempfelder Kirchenbuch genannt. [Seite 88]

Einschalten will ich vor Übergang in meine neuen Verhältnisse das Jägerleben auf der Rheinböllerhütte. Vor ca. 40 Jahren folgte ich zur Ausspannung meiner Nerven einer Einladung des alten Herrn Puricelli. Meinen Stand nahm ich in Argenthal und waidwerkte unter Führung des Jägers Schönewald; unermüdlich wurde gepürscht, von Tagesanbruch bis in die sinkende Nacht. Dieser Anfang war der Ausgangspunkt zu einer Freundschaft, welche ca. 40 Jahre lang dauerte und mit dem neugewonnenen Freunde, Herrn Direktor Karl Giersberg, heute noch besteht. Herr Puricelli, dieser kernige, originelle Mann fand Gefallen an mir und so stand mir auch ohne besondere Einladung die Benützung seiner Jagden jederzeit frei. Der Jagdbetrieb war feudal, hochherrschaftlich; mit 25 Jägern und einer großen Meute von Hunden wurden die Waldjagden von ca. 40000 Morgen, um die Hütte gelegen, bearbeitet. Unvergleichlich herrliche Stunden verlebte ich in diesen Kreisen, Brunst des Rehbockes, des Hirsches, im Winter die Schneejagden. 150 Stück Hochwild habe ich in diesen Jahren gestreckt. Abends im traulichen Kreise lustiger Gesellschaft, fern von Geschäftsplage, war ich oft der Mittelpunkt bei den harmlosen Neckereien und dem Jägerlatein. Auch die großen Hasenjagden in und bei Bretzenheim-Kreuznach, Strecke von 2000 Hasen am Tage war keine Seltenheit, und die lustigen Abende im Herrenhause sind Erinnerungen, welche im Abendglanze des Lebens mit Wehmut über das Vergängliche das Herz erfüllen.

Herr Karl Puricelli, der einzige Sohn aus reichem Geschlechte, welcher die tatsächlichen Verhältnisse des Lebens nie kennen lernte, hatte ein gutes, wohltätiges Herz, dessen Güte aber so häufig mißbraucht wurde, daß sich bei ihm eine Menschenverachtung bildete, welche in schroffer Ablehnung nach außen das falsche Urteil eines kalten, unzugänglichen Mannes erzeugte. Für wahre Not hatte er immer eine freigebige Hand. Seine Frau war eine feine, aber stolze Dame und die nahe Verwandtschaft des Ehepaares — Cousin und Cousine — ein Fehler. Dieser Verbindung ist ein Sohn, Heinrich, entsprossen, ein gutmütiger, etwas bequemer Herr. Hier reiht sich die Tragik der Familie an. Heinrichs erste Frau, ein Engel an Güte, Freundin der Armen, als Gastgeberin die Quelle größter Behaglichkeit, wurde nach wenigen Jahren des Zusammenlebens hinweggerafft. Seine zweite Frau, eine stattliche, lebhafte, schöne Persönlichkeit, brachte viel Leben und [Seite 89] Bewegung ins Haus, aber auch dieser Bund wurde leider durch den unerbittlichen Tod zerrissen. An Typhus starb der junge Ehemann und damit war der letzte Sprosse seines Geschlechtes dahingegangen. Ich habe die Freude, aber auch das Leid mit dem alten Herrn geteilt; ich stand mit ihm an dem Grabe seiner Frau, seines Sohnes, dessen erster Frau und auch seiner später gestorbenen Witwe, sowie der treuen Marie, der Haushälterin, einem Bestandteil der Familie. Zuletzt kam auch der Tod als Erlöser zum alten Herrn und haben wir mit großem Schmerze denselben in Bingen bei seinen Eltern begraben. Ruhet in Frieden, beneidenswert in der Stille des Grabes, welches den heutigen fürchterlichen Zustand des Weltschicksals abschließt.

Ich kehre zu der Halbergerhütte zurück und deren Großbetrieb. Die Unterkunfts-Verhältnisse standen in schroffem Gegensätze zu meiner verlassenen Arbeitsstätte und die an mich gestellten Anforderungen waren kaum zu bewältigen. Für Abwechslung und Vergnügen blieb mir zwar Saarbrücken zur Verfügung, für Jagd fehlte jede Gelegenheit, aber rasche Auffassung der Jugend schaffte mir gesellschaftlichen Anschluß in der Stadt, so mimte ich in Heldenrollen bei der Liebhaber-Gesellschaft „Mir sin’ net so“. — Alles zusammengenommen fühlte ich mich in dieser Tätigkeit nicht sehr wohl und befreundete mich allmählich mit dem Gedanken des Stellungswechsels. Ich habe in dieser Tätigkeit viel gelernt, meinen Gesichtskreis erweitert und konnte als vollwertige Arbeitskraft mit höheren Ansprüchen hervortreten. Ich betrachtete daher meine Mission auf der Halbergerhütte als erfüllt und glaubte auch mit dem verhältnismäßig geringen Gehalt von 400 Talern mich nicht begnügen zu sollen. Nach meinem Ausscheiden war denn auch für meine Leistungen die Anstellung von zwei Beamten mit 1000 Talern Gehalt erforderlich.

Vor meinem Austritt erlebte ich noch im deutsch-französischen Krieg die Schlacht bei Spichern, welche in unmittelbarer Nähe, nur durch die Saar begrenzt, sich abgewickelt hat; der erste Kanonenschuß wurde am Halberg abgegeben. — Ich besuchte den Tag nach der Schlacht das Schlachtfeld, dessen grausige Bilder noch heute lebhaft in meiner Erinnerung haften. —

Es war für mich nicht schwierig, eine neue Anstellung zu finden. Ich wurde von Herrn Julius Römheld, Eisengießerei und Eisenbau in Mainz und Friedrichshütte b. Laubach, engagiert, mit einem Gehalte [Seite 90] von Tlr. 800.—. Mittlerweile hatte ich das Alter von 24 Jahren erreicht. Es wurde mir die Aufgabe gestellt, die Betriebe kaufmännisch zu reorganisieren und ich konnte diesen Anforderungen voll und ganz entsprechen. Die Anerkennung für meine Tätigkeit drückte sich durch in kurzen Abständen folgende Gehaltsaufbesserungen aus. — Ich denke gerne an die Jahre zurück, welche ich in dieser Stellung verlebte, an die vielen Freundlichkeiten, welche ich von der Familie Römheld genießen durfte, besonders aber an den freundschaftlichen Verkehr mit dem ältesten Sohne Julius, welcher später nach Chile auswanderte und dort tödlich verunglückte. —

Vier Jahre sind in dieser Stellung im Fluge dahingeschwunden. Meine gesellschaftlichen Ansprüche hatten sich gehoben; ich verkehrte nur mit Söhnen aus guten Familien und darf sagen, daß ich als flotter junger Mann überall beliebt war.

Die Sorge um die Zukunft beschäftigte mich ernstlich; es waren drei Söhne der Familie im Geschäfte, daneben war kein Platz für mich. Nach freundschaftlicher Absprache mit Herrn Römheld suchte ich nach anderer Stellung. Es waren mir angeboten je eine Direktor-Stellung in der Eisen-Industrie im Rheinlande und Oberschlesien, ich reflektierte aber nicht darauf — dem Mutigen ist das Glück hold —, denn ich zielte auf die Gründung meiner Selbständigkeit.

Beim Übergang in meine eigene Geschäftsgründung, welche in der Übersicht über meinen Braut- und Ehestand geschildert ist, füge ich noch zur Ergänzung an. —

Ich bin mit offenen Augen durch die Welt gegangen und versäumte keine Verdienst-Gelegenheit. Kurz nach Begründung meines Geschäftes setzte ein großer Bankerott der Firma Lerch & Co., Lampenfabrik, ein. Ich meldete mich beim Vorsitzenden des Handelsgerichtes als Syndikus, kam aus Mangel an einer anderen geeigneten Persönlichkeit gerade wie gerufen und erhielt dieses Vertrauensamt. Ich fand einen vollständigen Wirrwar vor und hatte große Schwierigkeiten zu überwinden. Aber ich setzte mein ganzes Wissen und Können ein und es gelang mir, das in mich gesetzte Vertrauen in jeder Hinsicht zu rechtfertigen, ich bezahlte den Gläubigern 22 % bar aus, gegen einen Akkord-Vorschlag ohne Garantie von 16 % der früheren Firma-Inhaber. Mit dieser Leistung begründete ich mein Ansehen und meinen Ruf in der Mainzer Geschäftswelt. [Seite 91]

Als Marschroute hatte ich mir vorgeschrieben, meine Arbeitszeit nicht mit dem Kleinbedarf der Handwerker zu vergeuden, sondern direkt bei der Großindustrie anzuklopfen. Ein guter Gedanke, denn die Tatsache, an diesen Stellen Offerte abzugeben, setzte logisch meine Leistungsfähigkeit voraus; ein gewisses Geschick und Zufassen erwarb Vertrauen, welches ich aber auch voll und ganz zu verdienen bestrebt war. Das Geschäft mit dem Handwerk und der Landwirtschaft vernachlässigte ich aber trotzdem nicht, und die Vereinigung dieser Absatz-Kreise halfen den Grundstein zum Aufbau meines Hauses legen. —

Ich könnte hier eine Anzahl Erlebnisse aus meinem Geschäftsgang erzählen, welche in ihrer Eigenart interessieren dürften. Ich habe keine Gelegenheits-Aussicht zum Verdienste versäumt, es würde aber den Rahmen überschreiten und heute erzählen die Tatsachen. —

Beim Hinabsteigen in die Jugend-Erinnerungen kommt mir so recht zum Bewußtsein die Selbstbefriedigung und Vielseitigkeit meines Lebensganges. Tiefe Wehmut ist der Untergrund meiner Betrachtung; fast all die Menschen, welche mir so viel Treue, Liebe und Freundschaft bezeugten, schweben längst in anderen Regionen. —


Ich will von diesem Kapitel nicht scheiden, ohne einige historisch interessante Erinnerungen aus dem Weltkriege niederzuschreiben, welche ich in Herrenflur erleben mußte.

Von Mainz, Donnerstag, 24. Februar 1916, oben angekommen, grollte mir ein überaus heftiger Kanonendonner (Trommelfeuer) entgegen, welcher sich den darauffolgenden Tag fortsetzte und am Samstag zu einer fürchterlichen unheimlichen Heftigkeit sich steigerte. Dieses schreckliche, dämonische Kriegsgeheul kam von der großen Schlacht bei Verdun, getragen durch eine Luftlinie von ca. 150 Kilometer. Ohne Pause setzte sich der Kanonendonner fort und erreichte die höchste Kraft am Donnerstag, 2. März, sodaß unter dem Luftdruck die Fensterscheiben erklirrten. Der Kanonendonner setzte sich zusammen aus einer dumpf grollenden Tonwelle wie bei einem heftigen, fernen Gewitter, welche durch starke Ladungen schwerer Geschütze in einer kürzeren Tonwelle übertroffen wurde; dazwischen kamen einzelne hellere Schüsse mit sofortigem gleich heftigem Knalle, jedenfalls die Explosionen von Bomben, welche durch die großen Haubitzen geworfen wurden. — [Seite 92] Die Kämpfe am 2. März standen im Zusammenhang mit der Erstürmung des Dorfes Douaumont.

Eine Notiz vom 11. April 1917. Schlechtes Wetter, Sturm, Schnee und Kälte, stets begleitet vom Schlachtendonner, welcher in großer Stärke vom Westen herüberbrüllte.

Februar 1919. Die Lebensmittelnot ist ins Ungeheuerliche gestiegen, Kartoffeln kosten 30 bis 100 Mk. der Zentner, Weizenmehl 5 Mk. pr. Pfund, Butter 20 bis 30 Mk. pr. Pfund, Eier 1.50 bis 2.50 Mk. pr. Stück, Schinken 20 bis 25 Mk. pr. Pfund, Rind- und Kalbfleisch 8 bis 14 Mk. per Pfund; Schweinefleisch, kaum zu haben, bis 20 Mk. pr. Pfund. Heute sind die Preise noch höher, für Stiefel und Kleider unerschwingbar; Profitgier und Egoismus sind ins Ungeheuerliche gewachsen. —

Höchste Anerkennung muß ausgesprochen werden für den großen Fleiß und die Aufopferung der Frauen, alten Leute und Kinder, welche zu Hause die Arbeitskräfte der Männer, welche draußen im Felde ihr Leben fürs Vaterland einsetzten, leisten mußten. — Auch die russischen Gefangenen zeigten die Willigkeit zur guten Arbeitsleistung, wenn sie richtig ernährt und freundlich behandelt wurden. Ich hatte auch vier Russen zum Holz klein schneiden und sind wir in gegenseitiger Zufriedenheit von einander geschieden. —

Tieftraurige Herzen weinten, als unsere Truppen zurückgehen mußten. Auch über Kempfeld flutete eine Welle unserer Truppen zurück, wir hatten in Herrenflur vier Mann Einquartierung. Später folgten als Besetzung amerikanische Truppen; ein Vortrupp, nach Angabe mit General Pershing, belegte Haus Herrenflur mit dem Stabe von fünfzig Mann, welche vom Keller bis zum Speicher das Haus füllten. Später kam die definitive Besatzung vom Dezember 1918 bis Mai 1919 und erhielten wir die Einquartierung vom Regimentsstabe der 3 Batterien Artillerie 344 F. A./A. E. F., Nationalität zum großen Teile Texaner Cowboys.

In der ganzen Zeit der Einquartierung war mir der Eintritt in mein Haus und Grundstück verboten. Ich muß aber konstatieren, daß bei Abzug der Truppen ich wenig Veranlassung hatte über Beschädigung zu klagen, nur der große Vorrat von Gelees, Marmeladen, Kartoffeln, Äpfel, eingelegte Eier, Wein war verschwunden; wie weit aber mein Gärtner, welcher sich als ungetreuer Diener, auch als Wilddieb entpuppte, an dem Schaden beteiligt war, konnte ich nicht ermitteln und [Seite 93] habe daher von Anmeldung eines Schadens, welchen ich auf zirka Mk. 4000.— bezifferte, abgesehen.

Nun kommt mein Abenteuer als Kriegsgefangener. Die Benützung meiner Wohnung war verboten, die Erholung im Walde war eine unbedingte Notwendigkeit, die Familie Hegemeister Bottler auf der Wildenburg hatte die Freundlichkeit mich als Kurgast aufzunehmen; ich kam im Januar 1919 an einem Samstag Abend an, durch oben genannten Gärtner wurde meine Ankunft den Amerikanern denunziert und ich als großer Fabrikant und Lieferant von Kriegsmunition bezeichnet. Einschalten muß ich, daß durch einen vorhergegangenen Besuch meines Sohnes Hermann, welcher freimütig den Amerikanern seine Ansicht und Reklamation vorgetragen, hatte, die Gesellschaft gereizt war; dieselben glaubten, mein Sohn hätte mich begleitet. Nichts ahnend, spazierte ich mit einem Förster Abends 7 Uhr vor dem Hause auf und ab, plötzlich marschierte im Geschwindschritt ein Trupp von 20 Amerikanern an, umringte mich, ich mußte die Hände hochhalten und wurde nach Waffen eingehend körperlich ohne Erfolg untersucht; ich wurde dann ins Forsthaus transportiert zum Verhöre und zum Nachsehen meines Zimmers; ein Revolver, welchen ich zum Schutze für meine einsamen Spaziergänge mitführte und, wie ich fälschlich glaubte, auf Grund meines Waffenscheines dazu berechtigt war, wurde dabei vorgefunden und ich wie es scheint als Franktireur angesehen. — Ärgerlich waren die Leute aber hauptsächlich, daß die Voraussetzung, meinen Sohn zu erwischen, irrig war. — Nach telefonischer Meldung beim Kommandanten in Kempfeld wurde meine Vorführung befohlen, ich verweigerte mannhaft mein Kommen durch Gehen oder Reiten und so wurde eine Chaise zur Abholung beordert, welche ich allerdings bezahlen mußte. Bewacht von 6 Soldaten, reiste ich dann nach Kempfeld ab.

Ich war eine „Sensation“ und wurde von der ganzen Besatzung erwartet und im Gasthause Stumm dem Kommandanten Capitain Bennet vorgeführt; ich beschwerte mich sofort energisch gegen diese Gewalttätigkeit, da ich absolut nichts Unrechtes getan habe. Derselbe erwiderte mir, er entscheide nicht und werde telefonisch nach Bernkastel berichten, einstweilen müsse ich interniert werden und zwar habe ich den Vorzug, in Rücksicht auf mein Alter, bei Frau Lehrer Klein in einem warmen Zimmer eingesperrt zu werden. Ich wurde dann abgeführt. Mein Ersuchen um Tee und Abendbrot und verschiedene zur Nachtruhe [Seite 94] unerläßliche Bequemlichkeiten wurden abgeschlagen und erst nach mehrmaligen energischen Reklamationen erfüllt. Ich wurde von zwei Soldaten bewacht und die ganze Nacht alle Viertelstunde meine Anwesenheit kontrolliert. Nach endlosen Stunden kam der Sonntag Morgen, ich verlangte meinen Tee, der Dolmetscher Kautski, Sprosse einer deutsch-amerikanischen Familie, schlug meine Forderung ab, ich sei Gefangener und müsse ihr Essen in natura teilen; ich wurde in der Mitte einer Wache von 6 Mann nach der Küche geführt und erhielt in einem Napfe und einer Pfanne Reis mit Speck, darüber Marmelade gegossen; ich konnte das süße Zeug nicht essen, dabei gab es gutes Weißbrod und einen übersüßten Kaffee; sehr gefällig war mir der Koch, ein Deutsch-Oesterreicher. Nachdem ich mein Geschirr selbst abgespült hatte, wurde ich vor den Untersuchungsrichter geführt.

Ich schicke voraus, meine Verhaftung erregte eine große Aufregung im Dorfe; an allen Stellen, auch beim Herrn Landrat in Bernkastel, wurde zu meinen Gunsten interveniert; die Wirkung zeigte sich schon beim Empfange durch den Gerichtsherr, den obengenannten Capitain. Derselbe eröffnete mir, ich stehe unter dem amerikanischen Gesetze, las mir eine endlose Reihe von Kriegsartikeln vor, welchen ich die einfache Antwort entgegensetzte, ich habe nichts Unrechtes getan und keine Strafe verdient.

Nun wurde mir das Urteil eröffnet, nicht weil ich ein reicher, sondern ein alter Mann sei, wurde mir eine Gefängnisstrafe erlassen und ich nur zu einer Bezahlung von Mk. 1000.— verurteilt; was wollte ich machen? die selbstverständlich mit der Angelegenheit verbundenen Aufregungen schädigten meine Gesundheit, mir war die Hauptsache, frei zu kommen, ich bezahlte den Betrag und ging meiner Wege.

Die Freude der Kempfelder über den guten Ausgang war groß und das Bewußtsein der Erfahrung als Kriegsgefangener war mir mit der Geldstrafe nicht zu hoch bewertet. [Seite 95]

Geschäftsgründungen meiner Firma.

A. Niederlassungen der Handelsgeschäfte.

Haupt- und Stamm-Niederlassung Mainz.

  1. 1876 im Mai, im Hause Dreikronenstraße 1, als Agenturgeschäft.

Nach dem Grundsätze, das allgemeine Angebot zu überbieten durch eine Ware, welche sonst nicht im Handel ist, habe ich den Gußstahl-Fabrikaten von Jacob Aal & Son in Naes (Norwegen) eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Zur notwendigen eingehenden Information reiste ich im Jahre 1877 über Hamburg nach Naes. Die interessante Seereise mit der Fahrt ins Innere des Landes vermittelst eines zweirädrigen Karriols ab Tvedestrand steht mir noch wie neu im Gedächtnis. Die Familie Aal, bei der ich sehr herzlich aufgenommen wurde, bewohnte einen feudalen Herrensitz im eigenen Waldlande von einer Quadratmeile Umfang, mit anpassender, hochherrschaftlicher Aufmachung. Der alte Herr, ein echter Kavalier, erzählte mir unter anderem von seinen Reisen in den 40er Jahren durch Deutschland und Frankreich mit eigenem Wagen und Kurier, ln die schwierige Stahlbehandlung arbeitete ich mich am Ambos praktisch ein und reiste nach 2 Wochen Aufenthalt zurück in die Heimat, erfüllt mit neuem Wissen zu intensiver, erfolgreicher Arbeit.

  1. Umwandlung in offene Handelsgesellschaft und Umzug in das Haus Rheinstraße 73, neben Hotel Holländischer Hof.
  2. Kauf des Hauses Heiliggrab 3 durch meinen Schwiegervater und im gleichen Jahre Übersiedelung meines Geschäftes in die neuerbauten Räume. [Seite 96]
  3. 1882.

Gründung einer Filiale in dem Nebengebäude der St. Johanniskirche, Schöfferstraße 1, für den Handel der Spezialitäten (Haus- und Küchengeräte, Öfen und andere Gußwaren). Nach längeren Betriebsjahren wurde wegen Überbürdung von Arbeiten und weil die Artikel nicht in den Betrieb des Hauptgeschäftes paßten, das gut rentierende Geschäft 1892 verkauft, das heute noch ein gutgehendes, angesehenes Unternehmen ist.

Die Geschäftsräume reichten nicht aus und so wurde 1892 das große Anwesen der Firma S. B. Goldschmidt angekauft, im Zentrum der Stadt, mit den Eingängen von der Franziskaner-, Stadthaus- und Betzelsstraße. Nach Verlauf einiger Jahre wurden die Räumlichkeiten der Möbelfabrik Dibelius dazu gekauft. Durch diese Erwerbe war die Möglichkeit geboten, das Geschäft auszubauen und seine jetzige Bedeutung zu erreichen.

Die heutigen Vorstände sind: Herr Hermann Alexander Hommel an meiner Stelle, Herr Direktor Karl Bläsi, die Prokuristen Herren Karl Anger und Josef Keller.

Die ungünstigen Verhältnisse des relativ kleinen Platzes Mainz behinderten die Entwickelung und veranlaßten die Gründung von

Zweig-Niederlassungen.

Es wurden der Reihe nach eingerichtet:

  1. Filiale H. Hommel, Köln a. Rhein

unter Leitung von Herrn Franz Blumenröther, welcher leider vor kurzer Zeit verstorben ist. Ich werde demselben in Dankbarkeit für treu geleistete Dienste das beste Andenken bewahren. Heute sind als Prokuristen die Herren Alfred Isele und Jakob Spinnen mit der Leitung betraut und entsprechen voll und ganz den Voraussetzungen, welche deren Wahl bedingten.

  1. Filiale H. Hommel, Mannheim

unter Leitung von Herrn Wilh. Probst, dessen Verdienste ich dankend anerkenne; leider mußten wir auch dessen frühen Tod betrauern. Abgelöst wurde derselbe durch den heute noch wirkenden Prokuristen Herrn Ferd. Grämlich, welcher unterstützt wird durch seinen Assistenten Herrn J. Senck und Buchhalter Herrn M. Huttinger.

Seit der Gründung dieser Niederlassung sind über 25 Jahre dahingegangen. Die heutige Bedeutung dieses Unternehmens kann für die [Seite 97] Branche eine der ersten Stellen im Lande Baden beanspruchen. Der Tätigkeit des Herrn Grämlich ist es zu verdanken, daß dieser große Erfolg erreicht werden konnte; ich hebe diese Tatsache besonders hervor.

  1. H. Hommel & Cie., Wien

mit der Aufgabe, das Geschäft für die österreichisch-ungarischen Staaten zu vermitteln. Vorstand und Mitbesitzer ist Herr Aug. Denne, ein Sohn der Stadt Mainz. Derselbe hat seine Aufgabe voll erkannt und dieses Unternehmen gleichzeitig mit Unterstützung einer eigenen mechanischen Fabrik zu ansehnlichem Umfange und entsprechender Bedeutung emporgebracht.

  1. H. Hommel & Cie., München

Vorstand und Mitbesitzer Herr J. Stohrer, Detail-Geschäft Sonnenstraße, Engros-Geschäft und Lager Elsenheimerstraße. Auch dieses Geschäft hat sich durch Umsicht und zielbewußtes Streben des Herrn Stohrer zu einem angesehenen, großen Unternehmen entwickelt.

  1. Filiale H. Hommel, Berlin

Der bestehenden Konkurrenz auf diesem Platze gegenüber war die Möglichkeit ausgeschlossen, von Mainz aus den eingeleiteten Wettbewerb erfolgreich durchzusetzen. Es wurde daher unter Leitung des Herrn Ferdinand Hansen dieses Unternehmen begründet, das trotz der schwierigen Umstände erfolgreich gewachsen ist und das beste Ansehen in der Geschäftswelt genießt.

8.

Es sei eingeschaltet, daß unter Leitung des Herrn Paul Jedermann in Kattowitz für den Bedarf in Oberschlesien ein Lager eingerichtet wurde, welches seine Lebensfähigkeit nach jeder Richtung erwiesen hat. Der Ausbau in eine Niederlassung wurde durch den Ausbruch des Krieges verhindert, es erfreute sich aber auch dieses Kind der Firma einer gesunden Entwickelung.

9.

Hier ist noch anzureihen, daß im Jahre 1919 in den Konzern der Firma durch Ankauf aufgenommen wurde das älteste Werkzeug-Detailgeschäft am Platze Mainz, die Firma Franz Josef Willms. Die Vorbesitzer, alte, hochangesehene Mainzer Bürger, haben durch Leistung und anerkannte Reellität dem Geschäft einen guten Namen erworben, den wir auf der gleichen Grundlage zu erhalten und zu mehren stets bemüht sein werden. Da dieser neue Zuwachs als Bestandteil unserer Firma große Vorteile genießt, so ist auf ein weiteres Blühen und Gedeihen zu rechnen. Leiter und Mitteilhaber dieses Geschäftes ist unser getreuer, vieljähriger Mitarbeiter und Prokurist Herr Nicola Henrich. [Seite 98]

B. Übergang zu den Fabrikations-Gründungen.

10.

Geleitet von der Überzeugung, daß die Einrichtung eigener Fabrikation die Leistungsfähigkeit und das Ansehen einer Händler-Firma wesentlich erhöhe, wurde eine Holzwerkzeug-Fabrik in Laupheim bei Ulm, dem Sitze dieser Industrie errichtet. Nach Verlauf einiger Jahre traten die zwei Fachleute Ott und Schümm in diese Firma ein und das Geschäft wurde nach Ochsenfurt am Main verlegt. Durch Überlastung an Arbeit wurde die Beteiligung an diesem Betriebe abgestoßen und ist heute Herr Fr. Ott alleiniger Inhaber dieses gutgehenden und angesehenen Unternehmens. Herr Fr. Schümm, ein Mann mit hohen, idealen Anschauungen und großem Rechtlichkeitsgefühl, verbunden mit seltener Tüchtigkeit, ist leider zu früh aus dem Leben gegangen. Sein Andenken wird in Ehren fortleben bei Allen, die ihn kannten.

11.

Im Jahre 1882 besuchte mich ein Reisender aus Zürich zum Verkaufe der Reishauer Präzisions-Werkzeuge. Ich erkannte sofort die ganz außerordentliche Bedeutung dieses Angebotes für meine Interessen. Nach genauer Erkundigung knüpfte ich eine Verbindung an. Die Tour dieses Reisenden führte in das Industriegebiet der Saar. Nach achttägiger Zwischenpause reiste ich demselben nach, stellte dessen Mißerfolg fest, verkaufte aber selbst in wenigen Tagen für Mk. 10000.— von diesen Werkzeugen. Auf Grund dieser Bestellungen erhielt ich die beantragte Vertretung der Firma für Süddeutschland. Ich setzte nun meine ganze Tätigkeit für diese Abteilung ein und erzielte gute Erfolge. Die Fabrikation von solchen guten Werkzeugen war in Deutschland erst in der Entwicklung und mir daher der Erfolg meiner Bemühungen sehr erleichtert. — Urplötzlich kam aber das Schicksal dazwischen durch die Meldung des Konkurses der Firma Reishauer & Freudweiler. Ich ließ mich aber dadurch nicht entmutigen, setzte mich mit Herrn Ingenieur Gottfried Reishauer in Verbindung wegen Gründung einer neuen Firma, zur Fortsetzung der unterbrochenen Fabrikation. — Reishauer, eine feine, schüchterne Persönlichkeit, aus der bekannten Ingenieur-Firma Bodmer stammend, hatte als gleichzeitiger Artilleriehauptmann der schweizerischen Armee seine Liebhaberei der Konstruktion und Fabrikation von Granaten-Zeitzündern zugewendet, wodurch das Hauptfabrikat Werkzeuge Not leiden mußte. Der Mann paßte als [Seite 99] Gelehrter ins Laboratorium, nicht aber zur Leitung einer Fabrik. Nun kam Reishauer nach Mainz. Wir hielten Beratung mit dem Endergebnis, die Fabrikation nach Mainz zu verlegen. Ich mietete mit Vorbehalt durch Herrn Direktor Haas die unteren Räume der Fabrik Elster & Co. und wollte mit großem Ausblick in die Zukunft an die Verwirklichung des Projektes herantreten. Neue Schwierigkeiten traten auf, das Geschäft sollte nicht aus der Schweiz herausgehen. Es wurde nun mit meiner Unterstützung die Gründung einer Aktiengesellschaft geplant und solche auch ausgeführt.

Aktiengesellschaft für Fabrikation Reishauer’scher Werkzeuge, Zürich. Den Aufsichtsrat bildeten außer mir die Herren Robert Landolt, Küßnacht, Stadtrat Landolt, Zürich, Paul F. Wild, Zürich.

Unsere erste Handlung war, die ganze Fabrik mit Grund und Boden, Gebäulichkeiten und vollständiger Einrichtung bei der von der Konkurs-Verwaltung anberaumten Versteigerung zu erwerben.

Die Direktion übernahm Herr Robert Landolt, die Verkaufsfrage mit Übernahme des Alleinverkaufs für Deutschland, nördliche Staaten und Oesterreich übernahm ich. Ich setzte meine ganze Persönlichkeit für diese Sache ein. Bei Beginn reiste ich öfters mit dem Nachtzuge nach Zürich, suchte nach Ankunft sofort die Fabrik auf, arbeitete den ganzen Tag in der Fabrik und fuhr an demselben Tage mit dem Nachtzuge wieder nach Mainz zurück. —

Nur kurze Zeit war notwendig, um den zwölffachen Umschlag gegen früher zu erreichen und in ähnlichem Tempo ging die Entwicklung weiter.

Herr Robert Landolt war eine überaus zuverlässige und vornehm denkende Persönlichkeit, mit welcher im Laufe der Jahre eine gegenseitige herzliche Freundschaft uns und unsere Frauen verbunden hat. Ich habe verschiedentlich die Erfahrung gemacht, daß, wenn ich irgend einen erstrebten Höchstpunkt im Leben erreicht hatte, ein widriger Schicksalschlag dazwischenkam. Auch hier wurde ich nicht verschont. Ein entlassener Ingenieur streckte unseren lieben Landolt mit einem Militärgewehr nieder. Als Ehrenmann steht unser erster Präsident bei all seinen Bekannten und namentlich auch bei den Arbeitern der Fabrik in dauernder dankbarer Erinnerung.

Nach längerem Suchen wurde Herr Professor Aeppli an der Maschinenbau-Schule in Winterthur als neuer Präsident gewählt. Wir [Seite 100] erwarben in ihm einen tüchtigen Fachmann mit großem Verantwortlichkeitsgefühl, unter dessen Leitung, bei Anwendung der Fortschritte der Neuzeit, die Einrichtung der Fabrikation und die Ausdehnung der Geschäfte sich stetig verbesserte.

Meiner Anregung, eine Filialfabrik in Deutschland zu errichten, hat Herr Aeppli entsprochen und solche in Rastatt eingerichtet. Hoffentlich gleichen sich die politischen Verhältnisse aus und ermöglichen uns, daß die alten, historisch entwickelten Verbindungen weiter bestehen bleiben können.

  1. In der frühen Jugend meiner Kinder verlebte ich mit meiner Familie die Ferien auf der Asbacher Hütte, welche deren Besitzer, Herr Geh. Kommerzienrat Freiherr Karl von Stumm, der Anstalt Bethel-Bielefeld als Erholungsheim für die Schwestern geschenkt hatte. Der bekannte verstorbene Menschenfreund, Herr Pfarrer Dr. von Bodelschwingh, war ebenfalls öfters anwesend. Bei unseren Gesprächen über die Not der Menschheit hatten wir mehrfach übereinstimmende Anschauungen, namentlich auch über die ungesunde Beschäftigung der Achatschleifer im Idargau, welche sehr häufig mit Tuberkulose belastet sind. Wir überlegten, auf welchen Wegen eine bessere, gesündere Beschäftigung eingeführt werden könnte. Dieser Gedanke beschäftigte mich eine Reihe von Jahren.

Angeregt durch das Fehlen einer Fabrikation in deutschen Präzisions-Meßwerkzeugen gegenüber der amerikanischen Einfuhr, welche fast ausschließlich den Bedarf in Deutschland deckte, faßte ich den Entschluß, eine solche Fabrikation einzurichten und gründete 1893 das Idarwerk in Oberstein a. d. Nahe. Ich wollte zugleich einen Boden schaffen für die Humanitäts-Ideen von Bodelschwingh, bestärkt durch die Ansicht, daß ein Arbeitsstamm herangebildet werden könne, welcher durch Vererbung der Handgeschicklichkeit bei der Achatschleiferei zur Herstellung genauer Werkzeuge besonders geeignet wäre. Die Voraussetzung erwies sich als richtig, indem wirklich tüchtige Mechaniker herangebildet werden konnten, doch von den Sorgen, Arbeiten und Verlusten dabei will ich lieber hier nicht reden.

Im Laufe der Jahre vergrößerte sich die Fabrik, welche bald auch für Staatslieferungen in Anspruch genommen wurde. Die Verbesserung in der Einrichtung hielt den Ansprüchen stand, welche durch die rapid wachsende Metall- und Maschinen-Industrie gestellt wurden. [Seite 101]

Die Bildung größerer Industriezentren in fast ganz Deutschland veranlaßte die Strömung der Arbeiterbevölkerung nach diesen, was unter dem Schlagworte „Der Zug nach der Großstadt“ bald allgemein wurde. Auch der etwas abseits gelegene Platz Oberstein wurde von dieser Zeitströmung betroffen und der Betrieb hatte mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen, um den einlaufenden Aufträgen gerecht zu werden. Es trat ein Arbeitermangel ein, dadurch gebildet, daß nicht nur zum Teil alte, bewährte Kräfte dem Ruf der Industrie nach den Großstädten folgten, sondern auch junge, neu herangebildete Leute, einmal zur Leistung ihrer Militärpflicht einberufen, nicht mehr in ihren Heimatsort zurückkehrten, von dem Zuzug fremder Leute ganz zu schweigen, der entweder ganz unmöglich oder nur unter großen Opfern erreichbar war.

Diese Verhältnisse führten zur Ausführung der Absicht, den Betrieb nach einer Industrie-Großstadt zu verlegen und zwar kam hier nur ein Platz in Frage, welcher mit dem Stammhaus Mainz in leichter Verbindung stand und gleichzeitig den Boden für die Entwicklung eines modernen Betriebes für unsere Spezial-Industrie abgab.

13.

Als besonders geeignet hierzu wurde nach langen Erwägungen Mannheim ersehen und im Jahre 1910 die Firma Hommelwerke, G. m. b. H., Mannheim-Käferthal gegründet, der heute bestehende Neubau in Angriff genommen und mit allen Mitteln beschleunigt. Derselbe erweist sich als eine moderne Musterwerkstätte, in der nach den besten Vorbildern gearbeitet wird.

Das Fabrikations-Sortiment erstreckt sich auf Normal- und Toleranzlehren, Parallel-Endmaße, Mikrometer, Schiebelehren, Wasserwagen, Maßstäbe, Lineale, Winkel, Tuschier- und Richtplatten, Ränderier-Werkzeuge, selbstkonstruierte Meßmaschinen, sowie auf Speziallehren.

Die Aufnahme der Fabrikation der Parallel-Endmaße erwies sich als ein besonders glücklicher Griff, obwohl äußerst große Schwierigkeiten der Herstellung dieser raffiniert genauen Werkzeuge entgegenstanden. Diese Maße werden in Sätzen, in denen sich Zehntausende von Kombinationen ermöglichen lassen in Toleranzen von innerhalb + und — 1/1000 mm angefertigt und finden in allen Werkstätten und Betrieben, in denen moderner Geist waltet, Anwendung.

Mit der fortschreitenden Kultur der ganzen Welt bietet sich ein immer größeres Feld für die Einführung genauer zuverlässiger Meßwerkzeuge, die im Grunde genommen das Alpha und Omega einer [Seite 102] jeden Fabrikation sind. In Ländern, die vor kurzer Zeit noch jeder fortschreitenden Idee verschlossen blieben, macht sich jetzt das Bestreben nach Präzision und Austauschbarkeit der Maschinenteile geltend, alte Betriebe modernisieren sich und neue stellen sich von vornherein auf eine zeitgemäße Basis. In allen Ländern der Erde werden die Grundsätze aus den alten Kulturstaaten, besonders aber aus dem fortschrittlich gesinnten und industriell hochstehenden Deutschland aufgenommen und die Perspektive, die sich für die Entwicklung unserer Branche bei der ungeheueren Ausdehnung der metallverarbeitenden Industrie eröffnet, ist kaum abzusehen und läßt sich heute noch nicht erfassen.

Propaganda.

Es ist selbstverständlich, daß die Erfolge meiner Firma auf besonderer Leistungsfähigkeit, aber auch auf einer gesunden Bearbeitung des Marktes beruhten. Unsere Abnehmer-Kreise waren die Werkstätten der Berg-und Hüttenwerke, chemische Fabriken, Eisenbahnen, Elektrizitätswerke, Gasfabriken, Werften, Maschinenfabriken usw. in Europa und dem außereuropäischen Auslande. Solche wurden, soweit es die Entfernungen gestatteten, direkt durch unsere Vertreter besucht, ferner mit Unterstützung der Presse durch Annoncen und besonders durch Beschickung von Ausstellungen, welche ich mit den erworbenen Auszeichnungen hier anfüge. (Schul-Beispiel: In den Jahren 1900 bis 1902 bestellte mir die Ost-Chinesische Eisenbahn-Gesellschaft St. Petersburg für die neugebauten Bahnstrecken durch Sibirien bis Wladiwostock die Einrichtungen mit Werkzeugen für alle Werkstätten, sowie auch die Geräte für zehntausend Arbeiter zur Wiederherstellung der Bahnlinien, welche die Boxer zerstört hatten. Ein Erfolg gegen die amerikanische, englische und französische Konkurrenz.)

Staats-Medaillen:

Luxemburg 1894
Hessen 1896
Bayern 1898
Österreich 1904
Oldenburg 1905
Silberne Medaille und Diplom Düsseldorf 1902
Königlich preußischer Staats-Ehrenpreis 1909
Goldene Medaillen:
Weltausstellung Wien 1900
Weltausstellung Paris 1900
Weltausstellung St. Louis 1904
Weltausstellung Lüttich 1905
Handwerkskammern:
Saarbrücken 1903
Köln 1905
Wiesbaden 1909
Internationale Baufach-Ausstellung Leipzig 1913
[Seite 103]

[Preislisten]

Unsere Preislisten, ein stattliches Werk, welche das ganze Gebiet der Werkzeuge und Werkzeugmaschinen-Branche umfassen, haben dann besonders zur Verbreitung meiner Firma mitgeholfen. Ich kann in Anspruch nehmen, daß diese von mir persönlich ausgebaute Leistung eine schätzenswerte Beihilfe in dem Entwickelungsgange unserer Industrie in den letzten Jahrzehnten geleistet hat. Die Listen werden häufig zu Lehrzwecken erbeten und sind auch Vorbilder für andere, dem gleichen Zwecke dienende Erscheinungen. Die Einteilung und Übersicht füge ich an:
Abteilung I:
Abteilung II:
Meßwerkzeuge, und zwar in 5 Gruppen.
Abteilung III: Werkzeuge für Holzbearbeitung, Bau-und Möbelschreiner, Küfer, Wagner, Zimmerleute, Holzdreher, Hobelwerke usw.
Abteilung IV: Allgemeine Werkzeuge und technische Artikel für Fabrikbetriebe, wie: Schleifapparate, Schmiergeräte, Transportgeräte und Wagen, Pumpen, Geräte für Erd- und Steinarbeit, für Bau- und Bahnbedarf.
Abteilung V: Hebezeuge aller Arten.
In der Abteilung Werkzeugmaschinen:
A. Bohrmaschinen.
B. Drehbänke, Revolver- und Holzdrehbänke, Zentriermaschinen usw.
C. Hobel-, Shaping- und Stoßmaschinen.
D. Fräs- und Horizontalbohr-Maschinen.
E. Kaltsäge-, Warmsäge- und Gewindeschneid-Maschinen.
F. Schleif- und Poliermaschinen.
G. Lochstanzen, Blechscheren, Eisenabschneider für Hand- und Kraftbetrieb.
H. Blechbearbeitungsmaschinen.
I. Reifenbieg-, Stauch- und Schweißmaschinen mit Hämmern für Kraftbetrieb, Fallwerke usw.
K. Holzbearbeitung.
[Seite 104]

[Schlussbemerkung]

Als vierundsiebzigjähriger Mann habe ich das Szepter niedergelegt und ist an meine Stelle mein Sohn Ingenieur Hermann Alexander Hommel getreten. Derselbe ist erfüllt von dem heutigen modernen Geiste und, unterstützt durch große Erfahrungen in der Praxis, dieser Aufgabe voll und ganz gewachsen; somit bietet der Ausblick in die Zukunft die Gewähr, daß der Weiterbau meiner Lebensarbeit in guten Händen sich befindet.

14.

Seine erste Arbeit war, eine Zentralleitung zu schaffen, unter Leitung des Prokuristen Herrn Kurt Schneider, welche bei der heutigen Dezentralisation und dem großen Umfange der Firma eine Notwendigkeit war.

Durch restlose Einsetzung meiner ganzen Tatkraft, nur mit Hilfe selbst erworbenen Kapitales, habe ich mein Haus aufgebaut. Möge eine gute Zukunft demselben erblühen, zum Segen und Heil meiner Kinder, meiner Mitarbeiter und der deutschen Industrie!
Glück auf!

Ich bin zum Schlusse der Aufzeichnungen über meinen Lebensgang und meine Familie gelangt. Erfüllt von der hohen Befriedigung, für meine Nachkommen diese Erinnerungen festgelegt zu haben, bekenne ich mich zu dem schönen Wahlspruche von Gellert:
Nie schenkt der Stand, nie schenken Güter
Dem Menschen die Zufriedenheit,
Die wahre Ruhe der Gemüter
Ist Tugend und Genügsamkeit.
Genieße, was dir Gott beschieden,
Entbehre gern, was du nicht hast,
Ein jeder Stand hat seinen Frieden,
Ein jeder Stand hat seine Last.

Verzehre nicht des Lebens Kräfte
In träger Unzufriedenheit,
Besorge deines Stands Geschäfte
Und nütze deine Lebenszeit.
Bei Pflicht und Fleiß sich Gott ergeben,
Ein ewig Glück in Hoffnung sehn,
Dies ist der Weg zu Ruh’ und Leben,
Herr, lehre diesen Weg mich gehn!

Haus Herrenflur, im Herbst 1920. Hermann Hommel.


{Mailadresse Heino Speer}

Wilhelmine Speer, Die Eltern

Die Eltern. [Hermann Hommel *1847 – Mathilde, geb. Schaefer]

[Seite 1] Nun ist auch der Vater der Mutter nachgefolgt. Die Eltern sind tot. Das Elternhaus, das Kindsein, die Zuflucht existiert nicht mehr. Gewiss, man trauert aus tiefstem Herzen, aber man ist noch jung. Man kehrt zurück in die andere Stadt, in sein Heim, zu seinen Kindern, denen man gehört. Im Getriebe des Lebens verwischt sich almählig die Trauer & ehe man es merkt, ist es so weit, daß man nur noch bei gewissen Anlässen an sie zurückdenkt. Doch man wird alt & einsam & da steigt die Erinnerung herauf an die Kindheit, die Verstorbenen & die Stätte, in der man die sorgenloseste Zeit seines Lebens verbracht hat. Mit den Jahren kommt auch die Erkenntnis, daß Eigentümlichkeiten, Gewohnheiten, Charakteranlagen, die man bei den Eltern unbarmherzig bespöttelte & verurteilte mit dem feierlichen Schwur, es niemals so zu machen, sich ebenso unbarmherzig wiederholen & man wieder so von den eigenen Kindern be- & verurteilt wird.

Da fühlt man sich den Eltern so nahe wie man es ihnen nie im Leben war & das ist dann der Zeitpunkt, wo man sich mit ihnen intensiv befassen & sie in der Erinnerung verstehen & ehren soll. Darum will ich probieren von ihnen zu erzählen & sie so darzustellen, wie sie waren: [Seite 2] Gute anständige Menschen mit Fehlern & Schwächen wie wir sie alle haben. Sie gehören dazu, wie das Salz zum Brot.

Töchter haben ja meist mehr vom Vater wie von der Mutter, aber ist es nicht doch erstaunlich, daß er gleich mir nun im Alter sich entschloss Erinnerungen zu schreiben? Er saß nach dem Tode seiner Frau einsam & zurückgezogen lebend auf seinem Jagdhaus Herrenflur im Hunsrück. Ich sitze im strengen Kriegswinter 1942 durch ungebahnte Wege von der Welt abgeschlossen in meinen kleinen Zimmer unseres Landhauses bei Heidelberg & ihn sowohl wie mich trieb es dazu, durch Niederschreiben diese Einsamkeit zu ueberbrücken & zu ertragen.

In den schoenen Wäldern des württembergischen Schwarzwaldes ist der Vater aufgewachsen. Sein Grossvater wie auch sein Vater waren Förster, auch seine Mutter entstammte einer Generationen alten Förstersfamilie. Die schönen hohen Schwarzwaldtannen waren sein Wegweiser, täglich atmete er die gute würzige Schwarzwaldluft ein, wenn er den weiten Weg zur Schule zurücklegen musste. Ein kräftiger, fideler, schwarzaeugiger Bub, abgehärtet gegen Wind & Wetter, intelligent & [Seite 3] offenen Sinnes für die Schoenheiten der Natur. Auf diesen einsamen Märschen vertrieb er sich die Zeit mit Luftschloesser bauen & Zukunftsplänen. Ein reicher Kaufmann will er werden, Tiger erlegen & den Eltern ein feines Leben bereiten. Er hat das Ziel erreicht, doch aus dem frischen Burschen, der später vom Lehrling an zielbewusst durch eine harte Schule ging, mit kleinen Mitteln sein Geschaeft gründete & es mit zähem Fleiss & Energie zu einem weit ueber Deutschland hinaus bekannten Unternehmen brachte, war ein ernster, in sich zurückgezogener Mann geworden. Sein ganzes Sinnen & Trachten galt dem Geschaeft, der Familie. Ansprüche für seine Person hatte er keine. Er hasste die Stadt, die Staedter, alles Gesellschaftliche, alles Conventionelle. Glatte Höflichkeiten konnte er mit unglaublicher Offenheit & Grobheit erwidern. Nur im Wald, auf der Jagd, mit Forstleuten & Bauern fühlte er sich wol & unwillkürlich stellt man sich die Frage: Wäre er nicht besser in seinen Wäldern geblieben, wäre wie seine Vorfahren Forstmann geworden, fern von der Stadt & dem aufregenden zermürbenden Existenzkampf, der ihm oft so zur Last wurde?

Aber da war etwas, was diesem Leben der Arbeit Sinn & Bestimmung gab: Seine Frau, die er mit einer tiefen nach aussen hin nicht zeigenden, etwas grimmigen Liebe [Seite 4] liebte, auf deren Schoenheit & Tüchtigkeit er stolz war, die Ansprüche an das Leben stellte, ihn mit ihrem gesunden Egoismus & ihrer Energie vorwärts trieb, der zu Liebe er alle gesellschaftlichen Verpflichtungen ertrug & aeussere Ehrungen & Titel ueber sich ergehen liess. Sie war der Inhalt seines Lebens: Unsere Mutter.

Sie entstammte einer guten Mainzer Kaufmannsfamilie. Ihr Vater, ein Westerwälder Bauernsohn, brachte das selbstgegründete Geschaeft zu gutem Ansehen. Ihre Mutter, die er nach dem Tode seiner ersten Frau, ihrer Schwester, heiratete, war aus einer alten Apothekerfamilie in Boppard am Rhein. Den Grossvater habe ich nicht mehr gekannt, aber der Grossmutter entsinne ich mich sehr gut. Sie war eine schoene, etwas kühle conventionelle Frau, im Haushalt aeusserst akkurat & penible. Es waren da ein Sohn & eine Tochter die früh starb aus erster Ehe, sechs Töchter & ein Sohn aus zweiter Ehe.

Die „Schaefers Meedcher waren bekannt wegen ihrer Schoenheit & „sie ginge weg wie die warme Weck im Laade“. Der Haushalt in einem Kaufmannshause erforderte viel Arbeit, da das ganze Personal an den Mahlzeiten Teil nahm & teilweise auch da wohnte. Mathilde, unsere Mutter als die Aelteste, [Seite 5] musste von allein tüchtig mit anpacken. Sie erzählte oft mit einem nicht misszuverstehenden Seitenblick nach mir, „die lang nit so viel mithilft“, wie „sie hat de Schummel mache müsse“. Sie muss ein kräftiges Mädel gewesen sein, „nit auf de Mund gefalle“, die ihre Schwestern hin & her dirigierte. Das Theater war ihre grosse Leidenschaft. Bei Gastspielen der großen Tragödin Klara Ziegler war sie jeden Abend auf dem Rondell (Billet 50 Pfennig) zu sehen. Ihren sie bewundernden Geschwistern spielte sie dann noch am selben Abend aus der Jungfrau von Orleans oder der Medea vor. Der junge Hommel war mit ihren Brüdern befreundet & so geschah es, dass auf einem musikalischen Abend im Elternhause er seine zukünftige Frau kennen lernte & sich sofort in sie verliebte. Er beschreibt sie: „Ich sehe das ernste Mädchen noch immer vor mir in einem dunklen grünen Samtkleid, ein reizender schlanker Backfisch mit grossen Rätselaugen, edlem Profil & einem süssen feinen Kussmäulchen“. Sie soll durch seine Lebhaftigkeit etwas erschreckt gewesen sein. Bald darauf kam sie in ein Pensionat nach Augsburg. Nach einem Jahr zurückgekehrt, fing der feurige Liebhaber an, ihr intensiv den Hof zu machen mit ueblichen Fensterpromenaden, die auch zu meiner Zeit noch Mode waren & uebersenden von Buechern z.B. „Blüten & Perlen deutscher Dichtung„, darin das Gedicht von Moericke „An die Geliebte“ extra dick unterstrichen. Dann war es soweit, dass an einem schoenen Abend auf dem Wege des für den Sommer gebauten Hauses in Weisenau sie sich in die Arme fielen & sich verlobten. Heimlich! Die Eltern sollten es noch nicht wissen. Der [Seite 6] neugebackene Bräutigam glaubte mit Recht, daß sie ihre Tochter nur einem Manne mit eigenem Geschaeft geben würden & so gründete er kurz entschlossen & wagemutig im Jahre 1876 ein Agenturgeschaeft mit seinen sauer ersparten M. 15.000. Nach einem Jahr konnte er einen Jahresverdienst von M. 10.000 aufweisen. Nun wagte er es, um die Hand der Tochter anzuhalten, die ihm auch gewährt wurde. Nach einem Jahr Wartezeit wurden sie am 15. Mai 1878 in der Johanniskirche in Mainz getraut & zogen in das kleine Häuschen Rheinstrasse 73. Im Parterre war das Geschaeft, oben die Wohnung. Am 12. Juni 1879 kam ich zur Welt. Der junge Vater schreibt: „Wir waren mit der Kleinen sehr aengstlich namentlich in der Ernährung. So habe ich in der Nacht die Milch abgekocht & zur Abkühlung vor das Fenster gestellt. Es war Mondschein. Voll Sehnsucht wanderte mein Herz nach dem Hochwald, wo der Brunstschrei des Hirsches mich, den Jaeger, lockte“. Der arme Vater! Wie schwer ihm der Verzicht wurde. Die Mutter war glücklich. Ich war natürlich in ihren Augen ein Wunderkind an Gesundheit & Gewicht & wirklich zeige ich mich auf der ersten Photographie von Hertel dick, fett & faul mit einem satt behaglichen Lächeln auf einem Sessel liegen.

Die ersten Ehejahre waren Jahre zäher Arbeit & sich Einschränkens, aber auch innigster Liebe. Es ging gut aufwärts. Um das Geschäft vergrößern zu koennen, siedelten die Eltern schon 1880 nach Heiliggrabgasse 3 ueber, das nach einigen Jahren käuflich erworben wurde. Dort wurde Februar 1883 der erste Sohn, Conrad, geboren, [Seite 7] dem 1885 der zweite, Hermann nach dem Vater genannt, nachfolgte. Wir wuchsen heran. Die Buben zu kräftigen wilden Bengels, ich zu einem etwas blassen sensiblen Mädel, die sich gegen die zwei behaupten musste.

Der Haushalt vergrößerte sich. Die Mutter hatte schon ihre Last mit uns Drei & den Mädchen, mit denen sie in dauerndem Kampfe war. Aus dem reizenden Backfisch mit dem süßen Kußmaeulchen war eine schoene üppige resolute Frau geworden & der Vater, der feurische Bursch aus dem Schwarzwald, saß in seinem dumpfen Bureau & erstickte in Arbeit & Sorgen. Kein Wunder, daß die erregten Nerven manchmal aufeinander prallten, aber diese Explosionen waren gesund, kräftig, befreiend. Keulenschläge, keine schwächlichen Spitzfindigkeiten & Nadelstiche. Die wilde, mühsam zurückgedrängte Urnatur des Vaters tobte sich da aus. Es war ein sich Zusammenraufen wie der Führer einmal so treffend in einer Rede ueber die Ehe an die Frauenschaft sagte. Beim Vater war die Wut bald verraucht. Er nahm seinen Hut, pfiff seinem Hund & ging ins Freie. Aber die Mutter! Tagelang konnte sie den armen Mann wie Luft behandeln mit unbarmherziger Kälte. Er saß mit traurigen müden Augen & ganz zahm am Tisch & machte, daß er so rasch als möglich wieder in sein Bureau kam. Da floss mein weiches Herz ueber aus Mitleid für ihn. Bei diesen Stürmen konnte es passieren, daß die Mutter den auf Stramin gestickten Haussegen in rotem Plüschrahmen: „Friede, [Seite 8] Friede, süsse Eintracht, weile, weile über unserem Dach“ von der Wand riss & mit einem energischen Ruck ins Büffet beförderte, bis nach einer Versöhnungsnacht er wieder an seinem gewohnten Platze hing. Das war nun etwas, was uns Kinder sehr amüsierte.

Im Elternhause der Mutter wurde schoene Geselligkeit gepflegt. Die Mutter entbehrte sie in ihrer Ehe sehr. Der Vater wollte sie ganz für sich haben & hütete sie mit quälender Eifersucht. Ihre Schwestern, teils verheiratet, teils noch ledig, amüsierten sich auf Baellen im Militärkasino, Gutenberg-Kasino etc. & erzählten ihr davon. Manchmal scheint sie ihren Willen doch durchgesetzt zu haben. Ich erinnere mich eines Abends (vielleicht war ich 10 oder 12 Jahre), wie sie strahlend in einem grün-rosa changeant Kleid vor uns stand. Die Schultern nach der damaligen Mode frei. Wahrscheinlich wird man von dem ueppigen, schönen Busen mancherlei gesehen haben. Der Vater kam vom Bureau herauf um sich umzuziehen. Sie sehen & erklären, er ginge nicht mit ihr in diesem schamlosen Kleid war eins. Tränen, Verzweiflung bis er endlich einwilligte unter der Bedingung, daß sie einen Shawl umhängen müsse. Da war ich ganz auf der Seite der Mutter & verstand den Vater nicht.

Wir verlebten eine schoene Jugend in der Heiliggrabgass. Eines Tages sagte der Vater zu uns, er habe ein grosses für die weitere Ausdehnung des Geschaeftes geeignetes Anwesen gekauft. Es war ein altes Patrizierhaus mit schmaler Fassade nach der Betzelsgasse, die anderen Wohnräume lagen nach dem Garten, das Bureau & das Lagerhaus waren im Hof mit Durchfahrt von der Stadthausstrasse nach der Franziskanerstraße.[Seite 9] Ein wirklich herrschaftlicher Besitz. Das Wohnhaus war ursprünglich ein altes Franziskanerkloster & wurde später von Bürgermeister Maquet bewohnt wie Mainz französisch war. [Ergänzung aus dem Typoskript: Die Kaiserin Josephine hatte eine Pawlowna imperialis im Garten gepflanzt, die uns mit schönen lila Blüten erfreute.] Das war wieder ein Aufstieg & bedeutete auch vor Allem einen Umschwung im Leben der Mutter. Nun konnte sie das verwerten, was in ihr schlummerte & was ihrer Persönlichkeit entsprach. Sie ging mit unglaublicher Energie an die Arbeit, dirigierte Maurer, Maler, Tapezierer, die Alle großen Respekt vor ihr hatten. Zufällig zog sich zu dieser Zeit eine Angehörige der alten Mainzer Familie Lauteren ins Kloster zurück & verkaufte ihren ganzen Besitz, darunter viel schoene Moebel & Porzellane. Die Mutter nahm sich das Beste heraus, besuchte unermüdlich Mainzer & Wiesbadener Antiquare, die sie wegen ihrer Zähigkeit im Handeln bald fürchteten, die sie aber auch durch ihren Charme bezauberte. Mit gesundem Instinkt & einem natürlichen, künstlerischen Gefühl wusste sie das Gute herauszufinden. So entstand eine Wohnung, die weit ueber den Durchschnitt hinausging & in Mainz Aufsehen erregte. Allmälig kam wieder die gewohnte Ordnung in unser Leben, sehr zu unserem Leidwesen.

Wir hatten viel mehr Freizeit gehabt & dann war es so interessant, Malern & Tapezierern zuzusehen & sich mit ihnen zu unterhalten. Als ob es immer so gewesen wäre, kam der Vater mit seiner von ihm nicht wegzudenkenden Mütze, dem schwarzen Juppchen, die Arme auf dem Rücken verschränkt, vor sich hinpfeifend immer nachdenkend & geistesabwesend durch den Hof & den Garten zu den Mahlzeiten. Die Mutter hatte nun eine größere Inspektionsreise durch die Zimmer [Seite 10] zu unternehmen. Mit Flederwisch, Pinsel & Staubtuch bewaffnet, man kann es nur kämpferich ausdrücken, staubte sie ihre geliebten Antiquitäten selbst ab, fuhr mit dem Zeigefinger ueber die glatten Flächen der Möbel. Wehe, wenn sie irgendwo Staub fand. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie den Finger mit strafenden Blick, als hätte sie das größte Verbrechen begangen, dem Mädchen unter die Nase hielt. Die dazu noetigen Begleitworte fehlten natürlich nicht. Dann kam die Köchin an die Reihe zur Abrechnung. Ueber jeden Pfennig & jedes Ei wurde Auskunft verlangt. Es ging selten ohne eine Auseinandersetzung ab. Das gehörte zum Morgenprogramm. Allmälig rückte die Stunde heran, wo die Friseuse erschien, die mit einem Brenneisen, das auf einem Spiritusapparat erhitzt wurde, bei dem man immer gewärtig sein musste, dass er in die Luft flog, Wellen & Locken brannte & dann die Unterlage & den falschen Knoten aufsteckte. Der Odeur von versengtem Haar & Spiritus gehört auch zu meinen unvergesslichen Erinnerungen. Nun erheblich besser gelaunt machte sie sich zum Ausgehen fertig. Im Vorbeigehen wurde noch rasch ein Blick in die Küche geworfen & die Köchin eindringlich gemahnt, die Kartoffeln & das Gemüse zeitig aufzustellen & den Braten fleißig zu uebergiessen. Wir kamen um 1 Uhr aus der Schule & dann wurde im Wohnzimmer, das mit den alten Eßzimmermoebeln aus der Heiliggrabgasse eingerichtet war, zu Mittag gegessen. Hoffentlich war dann Alles gut geraten, die Buben hatten saubere Hände, mein Zopf war glatt geflochten, daß man friedlich essen konnte. Dann setze sie sich behaglich & gut gelaunt auf ihr rotes Plüschsofa & trank ihren starken Mokka. Ein Moment, den wir immer benutzten, um irgendetwas von ihr abzubetteln.

[Seite 11] Und am Mittag? Der Vater ging wieder in sein Geschaeft, machte auf die Minute seinen Spaziergang mit seinem geliebten Jagdhund an den Rhein oder nach dem Gautor. Manchmal begleitete ihn die Mutter, wenn sie zu keinem Kaffeeklatsch eingeladen war oder lange Sitzungen bei der Schneiderin hatte.

Wir waren bis 4 oder 5 Uhr in der Schule & gingen [nach einem ausgiebigen Kaffee mit Latwergbrot] dann zum Spielen. Ich besuchte meine Freundinnen oder sie kamen zu mir. Die Buben trieben sich auf dem Hof oder im Geschaeft herum oder waren bei unserem Freund, dem Meester Stahl, einem Landsmann von Vater in der Schreinerwerkstatt [der mir manches Kästchen für meine Andenken machte, den Buben Gewehre schreinerte. Später war die Werkstatt geradezu austapeziert mit den ersten Malversuchen meines Bruders Conrad. Sein größter Bewunderer war der alte Stahl. Er konnte sie ganz andächtig betrachten mit seinen kleinen, fideln Augen. Die Brüder waren gefürchtete Raufbolde.] Oft waren sie plötzlich verschwunden & kamen spät Abends mehr oder weniger zerschunden von einer Rauferei [mit den „Buddels“, der feindlichen Partei] nach Hause. Die Hausaufgaben ueberwachte die Mutter — wenn sie Zeit dazu hatte. Die Kinderfräuleins hielten es Gott sei Dank nie lange bei uns aus. Im Sommer schwirrten wir wieder hinaus, aber im Winter sassen wir brav lesend oder schreibend am Tisch unter der heissen, gemütlich summenden Gashängelampe im meist sehr ueberheizten Wohnzimmer. Die Mutter war oft im Theater oder in Conzerten. Man wusste nie recht, war es ihrer schoenen Toiletten wegen oder hatte sie noch ihre alte Theaterleidenschaft. Ganz zum Schluss präsentierten wir eine schlechte Note oder ein Arrest zum Unterschreiben. Manchmal ging’s gut ab, manchmal gab es ein Donnerwetter, auch vom Vater. Das war so der Tageslauf & ähnlich spielte es sich in vielen Familien ab. Der Vater war mit seinem Geschaeft ausgefüllt, wenn es auch [Seite 12] nicht seiner Natur entsprach. Aber er hatte Erfolg. Er hatte auch seine Jagd, war oft bei dem alten Herrn Puricelli, Besitzer der Rheinböller Hütte. In Heidenheim in der Nähe von Mainz gab es Treibjagden mit fidelen Jagdessen bei Tillmann, nicht zu vergessen die Jagden im Hochwald von Wildenburg aus. Doch die Mutter? Entsprach dieses Dahinleben ihrer ganzen Veranlagung? Ihre Energie, ihr künstlerischer Sinn, ihre Tatkraft, verlangten nach mehr Betätigung.

Das Dahinterhersein im Haushalt, bei uns Kindern, auch bei ihrem Mann, war die unbewusste Auswirkung. Manchmal hatte sie melancholische Anwandlungen, aber sie war doch vorwiegend fidel & urwüchsig & konnte sich ueber jede Kleinigkeit wie ein Kind harmlos amüsieren. Wenn z.B. [der immer à quatre épingles angezogene] Consul Peltzer, ein feiner alter Cavalier oder Geheimrat Reuleaux sie begleiteten & ihr Complimente machten, erzählte sie es uns strahlend & auf die brauchte der Vater nicht eifersüchtig zu sein. Da war noch der alte Geheimrat Vierling, unser Hausarzt, der die Mutter schon als Kind behandelte & Mathildche zu ihr sagte. Auf den hatte der Vater eine gewisse Eifersucht, wenn er seinen grauen Kopf auf ihren schoenen Busen legte um ihr Herz zu untersuchen & ich glaube auch, dass der alte Sünder ganz schoene Gefühle dabei hatte. Er sah aus wie der „Nickeloos“ mit seiner hohen Pelzmütze, der großen Nase, auf der ein Pincenez sass & dem langen grauen Bart. Er schnupfte dauernd aus seiner „Schnubbdewachsdos“ & schneuzte sich geräuschvoll in sein grosses buntes Taschentuch. Ich konnte ihn aus verschiedenen Gründen nicht leiden. [Seite 12] Einmal hatte er mir ein Salbenheilmittel gegeben, an dem ich fast gestorben bin & dann behauptete er, ich hätte Anlagen zur Rückgratsverkrümmung. Nun wurde mir ausgerechnet nach dem Mittagessen jeden Tag ein an einem dicken Seil befestigter Ring mit einer maulkorbähnlichen Einrichtung um Hals & Kopf gepresst & dann wurde ich bis fast an die Decke hinaufgezogen. So musste ichmindestens eine Viertelstunde mit hochrotem Kopf da oben herumbaumeln. Ich kann mir also gut vorstellen, was es heißt, gehängt zu werden. Diese Viecherei hörte Gott sei Dank bald auf, da auch die Eltern es zu furchtbar fanden. Eine Rückgratverkrümmung habe ich bis heute nicht. Meiner vielen Mitesser wegen, die die Mutter auf sein Anraten jeden Abend mit größter Wollust herausdrückte, wurde eine Badekur in Kreuznach verordnet, auch zur besonderen Freude der Mutter, die dort ihre schoenen Toiletten zeigen konnte. Zu meinem Unglück entdeckte sie dort einen Antiquar, bei dem sie stundenlang saß, ich leider auch. Ueberhaupt die immer größer werdende Leidenschaft, die Antiquare! Wo sie hin kam, war es das Erste, dass sie danach Umschau hielt. Wenn sie dann einen oder sogar Verschiedene erwischt hatte, war nichts mehr mit ihr anzufangen. Stundenlang kramte sie in den hintersten Ecken herum & wer gerade das Pech hatte, sie zu begleiten, musste so lang aushalten. Ihre Routine & ihre Zähigkeit im Handeln hatte System bekommen. Tagelang konnte sie den armen Mann quälen bis er endlich einwilligte, um nun seine Ruhe zu haben. In meinen Zimmer steht manches schwere Stück aus dem Elternhaus, das mich an die verschiedenen Kaufepisoden erinnert & mir sagt, dass das Herumsitzen & Warten sich doch gelohnt hat.

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam eine schwere Erkrankung der Mutter: Rippenfell, Lungen & Venenentzündung. Mit dem Vater war es schlimm. Er sprach kein Wort, brütete vor sich hin & wenn ihn jemand nach dem Befinden der Mutter fragte, wurde er grob.

Meine Confirmation verlief traurig. Ich kam dann plötzlich in ein Pensionat nach Trarbach a. d. Mosel. Warum, fragte ich mich. Warum soll ich aus allem herausgerissen werden — meine Eltern, das schoene Mainz, meine Freundinnen & Alles, was ich lieb hatte, verlassen? Die Antwort sollte mir später gegeben werden. Ich bekam vom Vater einen Brief, am 13. Okt. ein Brüderchen zur Welt gekommen wäre. Da wusste ich, warum die grosse Tochter nicht im Hause bleiben konnte. 1 1/2 Jahre musste ich in dieser furchtbaren Pension bleiben. Dann kam ich nach Lausanne. Eine schoene sorglose Zeit. Nach einem viel zu kurzen Jahr kehrte ich nach Hause zurück. Es war schwer, sich wieder einzugewöhnen. Ich vermisste sehr den schoenen Lac Leman, die Ausflüge ins Gebirge, die warme Freundschaft unserer Madame, die genaue Zeiteinteilung & die geistige Anregung. Doch in der Jugend verschmerzt man rasch. Es kamen die Freundinnen, Tanzstunde, Theater, Conzerte. Zu meinem 18. Geburtstag wurde im Garten & Hof ein schoenes Abendfest arrangiert, das die Mutter mit ihrer ganzen Phantasie gestaltete. Ich war in die Gesellschaft eingeführt. Im Winter darauf reihte sich Vergnügen an Vergnügen. Der arme Vater musste oft seinen Frack anziehen & wachte nun auch eifersüchtig ueber die Tochter. Einmal kam er in eine fidele Unterhaltung mit dem schlagfertigen August Bembé hineingeplatzt, worauf dieser nicht faul ihm erklärte: „Herr Geheimrat, setze se doch ihr Tochter in ä Glaskästche!“ Die Mutter genoss die Zeit in vollen Zügen. Sie war immer die Schoenste in den wundervollen Toiletten, die das geniale Fräulein Gerson für sie anfertigte. Ich stand etwas wie ein Aschenbrödel daneben & war oft tief unglücklich, wenn sie mich bei Auseinandersetzungen nicht verstand. Jahre später war ich in der gleichen Situation, wenn es auch nicht das Problem Mutter-Tochter war, so bekam ich doch von Mann & Soehnen Manches zu hören, was ich der Mutter damals vorgeworfen.

Nachdem ich 2 Winter ausgegangen, heiratete ich nach Mannheim & wenn sie auch beim Abschied ein bischen weinte, wird sie doch bald erleichtert aufgeatmet haben, — noch mehr wie auch die beiden Buben wegkamen. Schliesslich hat ja jeder Mensch wenn er jahrelang seine Pflicht getan hat, das Anrecht, sich sein Leben nach seiner Façon zu gestalten, obwohl die Familie immer dafür sorgen wird, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Wäre die Mutter noch am Leben, würden wir uns sicher heute in diesem Punkte voll & ganz verstehen & ich höre sie sagen: „Siehst es, ich hab doch Recht gehabt.“

Hat man einen Architekten zum Schwiegersohn, müsste es schon komisch angehen, wenn er nicht eines schoenen Tages ein Haus für seine Schwiegermutter bauen würde, noch dazu für eine Schwiegermutter, die den Bau- & Einrichtungsfimmel hat. Es wurde also beschlossen, ein Jagdhaus im Hunsrück zu bauen. Schon viele Jahre verbrachten wir unsere Ferien im Hochwald, zuerst auf der Asbacher Hütte, wo der Vater als junger Mann eine fröhliche Benamtenzeit verlebte. Der Hunsrpck war ihm zur zweiten Heimat geworden. Später waren wir auf der Wildenburg, einem gemütlichen einfachen Forsthaus mit alten Ruinen, für den Vater & uns Kinder ein idealer Ferienaufenthalt, weniger für die Mutter, die lieber in ein elegantes Bad gegangen wäre. Schon auf der Fahrt von Oberstein nach Katzenloch hinauf in einer vorsintflutlichen Kalesche auf holprigen Wegen, unglückseligerweise meistens bei strömendem Regen ging das Lamento los, was sie für eine unglückliche Frau sei, die sich in die Einsamkeit vergraben müsse. So ging es ein paar Tage, bis Vater ihr versprach, mit ihr nach Oberstein zu fahren, wo einige Perlenhändler wohnten & das wegen seiner Edelsteinschleifereien bekannt ist, um ihr einen schoenen Schmuck zu kaufen. Dann war sie getröstet & wenn dann noch ihre Schwester Elise Best herauf kam, war alles in bester Laune & Ordnung.

Nun sollte also das Haus gebaut werden & alle Aversion gegen die Einsamkeit war verflogen. Der gute Schwiegersohn kam also eines schoenen Tages mit einem Plane in der sicheren Annahme, dass er ihrem Geschmack entsprechen würde. Er hatte ja schon Manches mit ihr erlebt, aber ganz kannte er seine Schwiegermutter doch noch nicht. Ertstens wollte sie eine Halle & er nicht, zweitens wollte sie einen „brennenden Kamin“ & er war dagegen. Es entstand ein zäher, erbitterter Kampf, woraus meistens die Mutter als Siegerin hervorging, wo nicht, konnte er gewärtig sein, dass er jedes Mal bei seinem Besuch im fertigen Hause den & den vermeintlichen Fehler „unter die Nas‘ geriwwelt“ bekam. Aber sonst verstanden sie sich gut. Er hatte bei ihr einen grossen Stein im Brett & wenn sie etwas auf dem Herzen hatte, sprach sie sich bei ihm aus.

Der Vater hatte den Bauplatz sorgsam ausgesucht. Er lag oberhalb Kempfeld, den Aussichtspunkt der Wildenburg sah man im Hintergr& durch die Bäume. Von der anderen Seite hatte man einen wundervollen Blick in das langgestreckte Hochtal mit seinen vielen kleinen, durch Jagderinnerungen schon so vertrauten Dörfer. Dahinter die dunklen Berge des Idar & Hochwaldes. Eine melancholische Gegend, die durch die mit Schiefer bedeckten Haeuser eine düstere Note bekam, aber wunderschoen für den, der sie begriff. Sie entsprach der Art des Vaters & auch ich liebte sie wie auch die rauhe, kräftige Luft. Da oben war er ein anderer Mensch. Mit „der Flint auf dem Buckel“ lief er stundenlang teils allein, teils mit uns durch die schoenen Wälder, aber immer war ein Jagdh& sein Begleiter. Sein bester Fre& war der alte Druff, der ihn in den letzten Jahren seines Lebens begleitete. Er liess sich mir rührender Geduld, den treuen Hundeblick nicht von ihm wendend, alle oft recht unbarmherzigen Dressuren gefallen. Der Vater machte da oben seine Witzchen, die wir schon lange kannten, wie auch sein Jaegerlatein, das er den ganz veraengstigten Staedtern aufband, erzaehlte seinen Enkeln, unseren Buben, die mit großer Liebe & Bewunderung an ihm hingen, abenteuerliche Geschichten & vor allem von seiner Jugend.

Der Förster Saling mit dem langen roten Bart, immer die Pfeife im Mund, der Forstmeister & der Bürgermeister von Kempfeld kamen oft an uns, gemütliche, einfache Menschen, die einen guten Tropfen absolut nicht verachteten. Er war ueberall als „der Hummel“ bekannt & wenn er wieder oben war, ging es wie ein Lauffeuer durch die ganze Gegend: „Der Hummel ist wieder da.“ Ohne daß er viel Worte machte, verband ihn ein Zusammengehörigkeitsgefühl & ein Verstehen mit diesen harten, sonstr unzugänglichen Bauern, die in dieser rauhen Gegend ihr Brot sauer verdienen mussten & sehr arm waren. Um das Los der dortigen Achatschleifer zu erleichtern & ihnen bessere Verdienstmöglichkeiten zu geben, gründete er das Idarwerk in Oberstein, eine Fabrik für Präzisionswerkzeuge.

Dieselbe Zusammengehörigkeit verband ihn auch mit den Angestellten aller Unternehmungen. Für jeden, vor allem für den einfachsten Mann hatte er Verständnis & ein nettes Wort. Am Neujahrstag kamen die Beamten der Mainzer Firma zu ihm zur Gratulation. Er saß an seinem Schreibtisch im Jagdraum. Der Packer in seinem einfachen Rock wurde genauso herzlich empfangen wie der Prokurist in Gehrock & Cylinder. An seinem Geburtstag lud er Alle ein zu Hirschbraten, Kartofffelsalat & Bier so viel sie trinken konnten. Die Mutter, wir Kinder waren immer dabei. Es wurden humoristische Vorträge gehalten, selbstgedichtete Lieder im Chor gesungen & der Vater & die Mutter in Toasten gefeiert. Wir waren wie eine grosse Familie.

Die Mutter ging, nachdem der Hausbau beschlossen, mit gewohnter Energie ans Werk. Die Antiquitätengeschäfte wurden wieder von oben bis unten durchsucht, Tapezierer, Schreiner etc. in Trab gebracht & dann hatte sie ein Heim hingestellt, das von jedem, der hinauf kam, bewundert wurde & selbst der Architektschwiegersohn musste zugeben, dass es gut gelungen war. Nun gab es Gastlichkeit mehr wie genug. Auch die Mädchenfrage war glücklich gelöst. Der ewige Krieg war einem wohltuenden Frieden gewichen. Eva, die gute Köchin, & „dat Jettche“ aus Kempfeld, die später ihre ganze Treue beweisen konnte, sorgten dafür, dass Familie & Gäste zufrieden waren.

Der Vater war ein Jaeger, wie er sein soll. Er ging nicht nur auf die Jagd, um einen Bock zu schießen. Durch die Natur zu gehen, das Wild zu beobachten, war für ihn dieselbe Freude. Es war auch schoen, abseits der grossen Wege auf den samtweich bemoosten Schneisen zu wandern in dieser wunderbaren Stille & koestlichen Luft. Manchmal setzte ein aufgescheuchtes Rudel Rehe vorbei oder ein Stück Wild äste friedlich, eine Wildtaube gurrte & dazu die Dämmerung, die untergehende Sonne & die Frische des schoenen Sommer- oder Herbstabends. Ich begleitete ihn oft, gesprochen wurde nicht viel. Das war weder seine noch meine Art. Das Leben auf einem Jagdhaus hat grossen Reiz. Einmal wird in den frühen Morgenstunden hinaus gegangen, dann wieder am Abend zurück & nun ist die Spannung gross, ob der Jaeger Weidmannsglück gehabt & endlich den schlauen Bock, der ihn so oft schon an der Nase herumgeführt, geschossen hatte. Von der Rebhuhnjagd kamen sie meist mit grosser Beute zurück, manchmal war auch noch ein Hase dabei & die treuen tüchtigen Hühnerhunde wurden genau so gelobt wie ihre Herrn. Zur Abwechslung schoss man auch Wildtauben im gegenüberliegenden Wald oder man brachte einen Raubvogel mit nach Hause. Der Stelzfuß Engers, früherer Wilddieb, uns sehr ergeben & Erzieher der Buben, lehrte sie das Forellenfischen. Wir kamen mit vollen Eimern zurück, Krebs … wurden gelegt, wenn es dunkel war. Es war nicht nur für Unterhaltung, sondern auch für große Abwechslung in der Küche gesorgt.

Nur 4 sorglose Sommer verlebten die Eltern auf Jagdhaus Herrenflur, 1910 wurde es gebaut & 1914 begann der Weltkrieg. Der Vater hatte schon viele Jahre vorher den Verein für Volkswohlfahrt mit Volksküchen, Kindergärten etc. mit begründet & den Bau- & Sparverein einer eigenen Idee folgend ins Leen gerufen, der es ermöglichen sollte, minder bemittelten Leuten gesunde & schoene Wohnungen zu bauen. Er war der Praesident, Vicepräsident unser biederer Schreinermeister, der Schwabe Stahl. Die guten Mainzer schüttelten den Kopf ueber solche Verrücktheiten & es gehörte schon Mut & Idealismus dazu, um sich gegen sie zu behaupten. Heute würde man ihn verstehen.

Nun trat der Krieg in sein Recht & alle Kraft musste dafür eingesetzt werden. Die Mutter, die Vorsitzende verschiedener Wohlfahrtsaemter war, uebernahm die Kriegskinderfürsorge. Wie segensreich & klug siegearbeitet hatte, wurde nach ihrem Tode in ehrenvollen Nachrufen gewürdigt.

Wir waren vom Schicksal verwöhnt. Die Eltern & damit auch wir lebten in einer erfolgreichen, aufstrebenden Zeit & wenn es auch manchmal Rückschläge gab, so waren sie für den Aufstieg bedeutungslos. Ausser einer schweren Erkrankung der Mutter waren wir alle von Ernstem verschont geblieben. Wir lebten sorglos dahin & Jeder fand es selbstverständlich. Umso mehr traf uns die unerbittliche Tatsache von einem furchtbaren, ja vielleicht totbringenden Leiden dieser urges& scheinenden, immer noch schoenen Frau. Nachdem sie wegen verminderter Sehkraft am rechten Auge & Kopfschmerzen ahnungslos einen Augenarzt konsultiert hatte, liess dieser den Vater zu sich bitten & sagte ihm, daß das Augenleiden seiner Frau auf einer krebsartigen Erkrankung beruhe, ihr Leben aufs Höchste gefährdet sei, wenn das Auge nicht bald entfernt würde. Der arme Vater! Er musste seine ganze Kraft zusammennehmen, um nicht zusammenzubrechen & hatte dazu die kaum tragbare Aufgabe, der Mutter eine hoffnungsvolle Aufklärung zu geben. Es wurde beschlossen, den berühmten Augenarzt Professor von Hess in München, ein geborener Mainzer, zu consultieren. Ich begleitete die Eltern. Die Hoffnung, daß dieser unsere Befürchtungen verneinen würde, traf nicht ein. Die Mutter gab mit mutiger Entschlossenheit ihre Einwilligung zur Entfernung des Auges. Die Operation wurde so bald wie moeglich vollzogen. Als sie wieder noch halb in der Narkose mit verbundenem Auge ins Zimmer zurück gebracht wurde, brach mir fast das Herz. Sie war bewunderswert gefasst, machte nach einigen Tagen wieder ihre Spässe & amüsierte sich, wie Geheimrat von Hess für seinen Assistenten bei ihr anfrug, ob ich noch frei sei. Er hätte sich in mich verliebt. Es gab aber auch Momente, wo sie die Verzweiflung packte & sie den Vater & mich um Verzeihung bat. Da war es bei uns Beiden mit unserer Fassung vorbei. Der Professor entließ uns mit der Versicherung: „Das Auge konnte ich nicht erhalten, aber das Leben habe ich gerettet“ & so fuhren wir doch zuversichtlich wieder nach Hause. In ihre schoene Wohnung zurückgekehrt, die mit einer Unmenge von Blumen, von Hoch & Niedrig gesandt, geschmückt war, nahm sie bald mit alter Energie ihr gewohntes Leben auf, gab sogar noch kleine Gesellschaften. Nach ungefähr einem halben Jahr fing sie an zu kränkeln, klagte ueber Schmerzen in der rechten Seite, war reizbar & nervös. Wie wir sie besuchten, waren wir erschrocken ueber ihr veraendertes Aussehen. Mein Bruder Conrad schlug vor, den Internisten Professor Mueller aus München kommen zu lassen. Die Diagnose lautete: Leberkrebs, hoffnungslos. Ihr selbst wurde gesagt, dass die Schmerzen von der Rippenfellentzündung, die sie vor Jahren gehabt, kämen. Ansicht der Aerzte war, dass die Mutter in einem Krankenhause bessere Pflege hätte. Da doch keine Hoffnung auf Genesung bestand, würde ich sie lieber in ihrer gewohnten Umgebung gelassen haben, dem Gärtchen, in dem sie manchmal hätte auf & ab gehen koennen, aber es wurde anders bestimmt. Wir brachten sie am 16. Dezember 1916 in das neue staedtische Krankenhaus. Ein nicht zu beschreibender Moment, wie sie zum letzten Male durch die Türe ihres so geliebten Hauses schritt & diese sich für immer hinter ihr schloss. Es ist wahr, sie hatte da oben die beste Pflege, die man sich denken konnte. Die katholischen Schwestern waren aufopfernd & der Chefarzt tat Alles, um ihr die Schmerzen zu erleichtern & den bedauernswerten Zustand einigermaßen erträglich zu machen. Dat Jettche, die treue Seele, war Tag & Nacht bei ihr. Der Vater wanderte zwei Mal am Tage zu ihr, immer etwas mitbringend, was ihr Freude bereiten konnte. Conrad kam von Friedberg, wo er Dolmetscher & Offizier in einem Gefangenenlager war, herüber, so oft es seine zeit erlaubte. Hermann ließ sich von der Front Urlaub geben, ihr Jüngster Carlchen saß oft an ihrem Bett. Ich selbst war jede Woche von Montag bis Mittwoch bei ihr, manches Mal brachte ich die Kinder mit. Jeder suchte ihr das schwere Los zu erleichtern.

Im Schicksal bewährt sich der Mensch. Das konnte man von der Mutter im wahren Sinne des Worts sagen. Alle Aeußerlichkeiten waren verschwunden. Da lag eine nach innen gerichtete zarte fromme Frau voller Wärme & Sorge für ihre Angehörigen trotz ihrer Schmerzen. Die Eltern waren sich so nahe wie wohl nie in ihrer ganzen Ehe. Ihre Liebe war neu erwacht, nicht mehr stürmisch & jung, aber umso tiefer & inniger. Am liebsten wäre ich aus dem Zimmer gegangen, wenn der Vater da war, um sie nicht zu stören, vor allem am letzten Bescherabend, den sie erlebte, wie sie Hand in Hand vor dem kleinen Bäumchen aus dem kempfelder Wald saßen, schoene Erinnerungen hervorholten & in Erkennung des furchtbaren unerbittlichen Geschicks vor sich hin weinten. Ich saß still in der Ecke. Diesen Abend werde ich nie vergessen. Die unheimliche Krankheit zehrte nun rasch an ihrem Körper, sie wurde immer weniger & dann kam das Ende, die Erlösung. Conrad & ich waren bei ihr. Er hielt ihre Hand, ich saß an seiner Seite. Sie schien bewusstlos, aber einige Male drückte sie ihm noch die Hand, wenn er sie anrief. Manchmal ein Stöhnen, sonst tiefe Ruhe. Der Atem wurde schwächer & schwächer & dann war es vorbei. Es war ein klarer februarabend. In der Nähe bliesen Soldaten den Abendappell. Die Sonne war am untergehen. Ich konnte nicht weinen. Dieser Tod war etwas so Grosses & Erhabenes, daß jeder Schmerz verstummte. Ich legte ihr eine Blume in die Hand. Das Gesicht war schoen & edel, vom Leid gezeichnet, & dann kam der Vater. Er riss das Fenster auf & schrie: „Luft, frische Luft“ & dann sank er vor dem Bett in die Kniee. Diesen Schmerzensausbruch zu schildern wäre profan. Es würden auch die Worte dazu fehlen. Uns, die wir es erlebt haben, hat es ins Tiefste erschüttert & uns noch inniger verbunden. Das war am 17. Februar 1917. Er ueberlebte die Mutter um 4 1/2 Jahre. Sein Leben war ausgelebt. Es hatte nur noch Sinn in der Sorge um uns Kinder, vor allem um seinen Jüngsten, den er als Vermächtnis der Mutter betrachtete. Sein ganzes Denken ging dahin, das, was er geschaffen, auf Jahre für uns zu sichern. Immer mehr kehrte er zur Einfachheit zurück. Wenn man ihn sah, ein in sich gekehrter alter, einfacher Mann. Herrenflur war seine Zuflucht. Dort schrieb er die Geschichte der Familie Hommel & die Erinnerungsblätter an seine Frau. Aus beiden spricht eine tiefe Resignation, ein sich Abwenden von der Stadt, seinen Menschen, der Gier nach Geld & Gut & neben Allem das große Heimweh nach der unvergesslichen Verstorbenen. Täglich wanderte er an ihren Lieblingsplatz mit dem schoenen weiten Blick in ferne Gebirge. Dort hält er Zwiesprache mit ihr & erwartet den Tod als Freund, Erlöser & Vermittler mit dem Jenseits. Und dann hat sich sein Wunsch erfüllt, nachdem er noch einige Tage vorher mich hier besucht hatte. Wir ahnten Beide nicht, dass es ein Abschied fürs Leben war. Beim Rauschen der Wälder in einer Sommernacht ist er hinübergeschlummert. Er ist allein gestorben, aber ehe er sich zum letzten Schlafe niederlegte, wird er noch einmal die Gegend mit einem Abschied nehmenden Blick umfasst haben & wir werden bei ihm gewesen sein. Sein letzter Seufzer aber vereinige ihn mit seiner Frau im festen Glauben an ein Jenseits. Am anderen Tage sprach es sich bis zur entferntesten Hütte herum: „Der Hummel ist tot!“ Und dann kamen sie aus allen Dörfern, eine unübersehbare Menge, um ihm auf seiner letzten Fahrt hinunter das Geleite zu geben. Das ganze Tal hallte wieder vom Glockengeläute all der kleinen Dorfkirchen. Er ist wie ein Fürst zu Grabe getragen worden, aber er war so gar kein Fürst. Ein schlichter Mensch mit gutem, richtigen Gefühl für die, die hinter seinem Sarge gingen, die Forstleute, Bauern, Armen & Bedrückten, denen er oft Helfer war.

Nun ruht er neben seiner Frau in Mainz am Rhein. Felsen, Fichten & Erika aus seinem Hochwald bedecken ihn.

Das ist das Leben & Sterben der Eltern. Liebe & Dankbarkeit haben mir die Feder geführt.Mögen meine Kinder, wenn ich den letzten Weg gegangen, mit gleichen Gefühlen meiner gedenken. Dann habe ich nicht umsonst gelebt.