Die Eltern. [Hermann Hommel *1847 – Mathilde, geb. Schaefer]

[Seite 1] Nun ist auch der Vater der Mutter nachgefolgt. Die Eltern sind tot. Das Elternhaus, das Kindsein, die Zuflucht existiert nicht mehr. Gewiss, man trauert aus tiefstem Herzen, aber man ist noch jung. Man kehrt zurück in die andere Stadt, in sein Heim, zu seinen Kindern, denen man gehört. Im Getriebe des Lebens verwischt sich almählig die Trauer & ehe man es merkt, ist es so weit, daß man nur noch bei gewissen Anlässen an sie zurückdenkt. Doch man wird alt & einsam & da steigt die Erinnerung herauf an die Kindheit, die Verstorbenen & die Stätte, in der man die sorgenloseste Zeit seines Lebens verbracht hat. Mit den Jahren kommt auch die Erkenntnis, daß Eigentümlichkeiten, Gewohnheiten, Charakteranlagen, die man bei den Eltern unbarmherzig bespöttelte & verurteilte mit dem feierlichen Schwur, es niemals so zu machen, sich ebenso unbarmherzig wiederholen & man wieder so von den eigenen Kindern be- & verurteilt wird.

Da fühlt man sich den Eltern so nahe wie man es ihnen nie im Leben war & das ist dann der Zeitpunkt, wo man sich mit ihnen intensiv befassen & sie in der Erinnerung verstehen & ehren soll. Darum will ich probieren von ihnen zu erzählen & sie so darzustellen, wie sie waren: [Seite 2] Gute anständige Menschen mit Fehlern & Schwächen wie wir sie alle haben. Sie gehören dazu, wie das Salz zum Brot.

Töchter haben ja meist mehr vom Vater wie von der Mutter, aber ist es nicht doch erstaunlich, daß er gleich mir nun im Alter sich entschloss Erinnerungen zu schreiben? Er saß nach dem Tode seiner Frau einsam & zurückgezogen lebend auf seinem Jagdhaus Herrenflur im Hunsrück. Ich sitze im strengen Kriegswinter 1942 durch ungebahnte Wege von der Welt abgeschlossen in meinen kleinen Zimmer unseres Landhauses bei Heidelberg & ihn sowohl wie mich trieb es dazu, durch Niederschreiben diese Einsamkeit zu ueberbrücken & zu ertragen.

In den schoenen Wäldern des württembergischen Schwarzwaldes ist der Vater aufgewachsen. Sein Grossvater wie auch sein Vater waren Förster, auch seine Mutter entstammte einer Generationen alten Förstersfamilie. Die schönen hohen Schwarzwaldtannen waren sein Wegweiser, täglich atmete er die gute würzige Schwarzwaldluft ein, wenn er den weiten Weg zur Schule zurücklegen musste. Ein kräftiger, fideler, schwarzaeugiger Bub, abgehärtet gegen Wind & Wetter, intelligent & [Seite 3] offenen Sinnes für die Schoenheiten der Natur. Auf diesen einsamen Märschen vertrieb er sich die Zeit mit Luftschloesser bauen & Zukunftsplänen. Ein reicher Kaufmann will er werden, Tiger erlegen & den Eltern ein feines Leben bereiten. Er hat das Ziel erreicht, doch aus dem frischen Burschen, der später vom Lehrling an zielbewusst durch eine harte Schule ging, mit kleinen Mitteln sein Geschaeft gründete & es mit zähem Fleiss & Energie zu einem weit ueber Deutschland hinaus bekannten Unternehmen brachte, war ein ernster, in sich zurückgezogener Mann geworden. Sein ganzes Sinnen & Trachten galt dem Geschaeft, der Familie. Ansprüche für seine Person hatte er keine. Er hasste die Stadt, die Staedter, alles Gesellschaftliche, alles Conventionelle. Glatte Höflichkeiten konnte er mit unglaublicher Offenheit & Grobheit erwidern. Nur im Wald, auf der Jagd, mit Forstleuten & Bauern fühlte er sich wol & unwillkürlich stellt man sich die Frage: Wäre er nicht besser in seinen Wäldern geblieben, wäre wie seine Vorfahren Forstmann geworden, fern von der Stadt & dem aufregenden zermürbenden Existenzkampf, der ihm oft so zur Last wurde?

Aber da war etwas, was diesem Leben der Arbeit Sinn & Bestimmung gab: Seine Frau, die er mit einer tiefen nach aussen hin nicht zeigenden, etwas grimmigen Liebe [Seite 4] liebte, auf deren Schoenheit & Tüchtigkeit er stolz war, die Ansprüche an das Leben stellte, ihn mit ihrem gesunden Egoismus & ihrer Energie vorwärts trieb, der zu Liebe er alle gesellschaftlichen Verpflichtungen ertrug & aeussere Ehrungen & Titel ueber sich ergehen liess. Sie war der Inhalt seines Lebens: Unsere Mutter.

Sie entstammte einer guten Mainzer Kaufmannsfamilie. Ihr Vater, ein Westerwälder Bauernsohn, brachte das selbstgegründete Geschaeft zu gutem Ansehen. Ihre Mutter, die er nach dem Tode seiner ersten Frau, ihrer Schwester, heiratete, war aus einer alten Apothekerfamilie in Boppard am Rhein. Den Grossvater habe ich nicht mehr gekannt, aber der Grossmutter entsinne ich mich sehr gut. Sie war eine schoene, etwas kühle conventionelle Frau, im Haushalt aeusserst akkurat & penible. Es waren da ein Sohn & eine Tochter die früh starb aus erster Ehe, sechs Töchter & ein Sohn aus zweiter Ehe.

Die „Schaefers Meedcher waren bekannt wegen ihrer Schoenheit & „sie ginge weg wie die warme Weck im Laade“. Der Haushalt in einem Kaufmannshause erforderte viel Arbeit, da das ganze Personal an den Mahlzeiten Teil nahm & teilweise auch da wohnte. Mathilde, unsere Mutter als die Aelteste, [Seite 5] musste von allein tüchtig mit anpacken. Sie erzählte oft mit einem nicht misszuverstehenden Seitenblick nach mir, „die lang nit so viel mithilft“, wie „sie hat de Schummel mache müsse“. Sie muss ein kräftiges Mädel gewesen sein, „nit auf de Mund gefalle“, die ihre Schwestern hin & her dirigierte. Das Theater war ihre grosse Leidenschaft. Bei Gastspielen der großen Tragödin Klara Ziegler war sie jeden Abend auf dem Rondell (Billet 50 Pfennig) zu sehen. Ihren sie bewundernden Geschwistern spielte sie dann noch am selben Abend aus der Jungfrau von Orleans oder der Medea vor. Der junge Hommel war mit ihren Brüdern befreundet & so geschah es, dass auf einem musikalischen Abend im Elternhause er seine zukünftige Frau kennen lernte & sich sofort in sie verliebte. Er beschreibt sie: „Ich sehe das ernste Mädchen noch immer vor mir in einem dunklen grünen Samtkleid, ein reizender schlanker Backfisch mit grossen Rätselaugen, edlem Profil & einem süssen feinen Kussmäulchen“. Sie soll durch seine Lebhaftigkeit etwas erschreckt gewesen sein. Bald darauf kam sie in ein Pensionat nach Augsburg. Nach einem Jahr zurückgekehrt, fing der feurige Liebhaber an, ihr intensiv den Hof zu machen mit ueblichen Fensterpromenaden, die auch zu meiner Zeit noch Mode waren & uebersenden von Buechern z.B. „Blüten & Perlen deutscher Dichtung„, darin das Gedicht von Moericke „An die Geliebte“ extra dick unterstrichen. Dann war es soweit, dass an einem schoenen Abend auf dem Wege des für den Sommer gebauten Hauses in Weisenau sie sich in die Arme fielen & sich verlobten. Heimlich! Die Eltern sollten es noch nicht wissen. Der [Seite 6] neugebackene Bräutigam glaubte mit Recht, daß sie ihre Tochter nur einem Manne mit eigenem Geschaeft geben würden & so gründete er kurz entschlossen & wagemutig im Jahre 1876 ein Agenturgeschaeft mit seinen sauer ersparten M. 15.000. Nach einem Jahr konnte er einen Jahresverdienst von M. 10.000 aufweisen. Nun wagte er es, um die Hand der Tochter anzuhalten, die ihm auch gewährt wurde. Nach einem Jahr Wartezeit wurden sie am 15. Mai 1878 in der Johanniskirche in Mainz getraut & zogen in das kleine Häuschen Rheinstrasse 73. Im Parterre war das Geschaeft, oben die Wohnung. Am 12. Juni 1879 kam ich zur Welt. Der junge Vater schreibt: „Wir waren mit der Kleinen sehr aengstlich namentlich in der Ernährung. So habe ich in der Nacht die Milch abgekocht & zur Abkühlung vor das Fenster gestellt. Es war Mondschein. Voll Sehnsucht wanderte mein Herz nach dem Hochwald, wo der Brunstschrei des Hirsches mich, den Jaeger, lockte“. Der arme Vater! Wie schwer ihm der Verzicht wurde. Die Mutter war glücklich. Ich war natürlich in ihren Augen ein Wunderkind an Gesundheit & Gewicht & wirklich zeige ich mich auf der ersten Photographie von Hertel dick, fett & faul mit einem satt behaglichen Lächeln auf einem Sessel liegen.

Die ersten Ehejahre waren Jahre zäher Arbeit & sich Einschränkens, aber auch innigster Liebe. Es ging gut aufwärts. Um das Geschäft vergrößern zu koennen, siedelten die Eltern schon 1880 nach Heiliggrabgasse 3 ueber, das nach einigen Jahren käuflich erworben wurde. Dort wurde Februar 1883 der erste Sohn, Conrad, geboren, [Seite 7] dem 1885 der zweite, Hermann nach dem Vater genannt, nachfolgte. Wir wuchsen heran. Die Buben zu kräftigen wilden Bengels, ich zu einem etwas blassen sensiblen Mädel, die sich gegen die zwei behaupten musste.

Der Haushalt vergrößerte sich. Die Mutter hatte schon ihre Last mit uns Drei & den Mädchen, mit denen sie in dauerndem Kampfe war. Aus dem reizenden Backfisch mit dem süßen Kußmaeulchen war eine schoene üppige resolute Frau geworden & der Vater, der feurische Bursch aus dem Schwarzwald, saß in seinem dumpfen Bureau & erstickte in Arbeit & Sorgen. Kein Wunder, daß die erregten Nerven manchmal aufeinander prallten, aber diese Explosionen waren gesund, kräftig, befreiend. Keulenschläge, keine schwächlichen Spitzfindigkeiten & Nadelstiche. Die wilde, mühsam zurückgedrängte Urnatur des Vaters tobte sich da aus. Es war ein sich Zusammenraufen wie der Führer einmal so treffend in einer Rede ueber die Ehe an die Frauenschaft sagte. Beim Vater war die Wut bald verraucht. Er nahm seinen Hut, pfiff seinem Hund & ging ins Freie. Aber die Mutter! Tagelang konnte sie den armen Mann wie Luft behandeln mit unbarmherziger Kälte. Er saß mit traurigen müden Augen & ganz zahm am Tisch & machte, daß er so rasch als möglich wieder in sein Bureau kam. Da floss mein weiches Herz ueber aus Mitleid für ihn. Bei diesen Stürmen konnte es passieren, daß die Mutter den auf Stramin gestickten Haussegen in rotem Plüschrahmen: „Friede, [Seite 8] Friede, süsse Eintracht, weile, weile über unserem Dach“ von der Wand riss & mit einem energischen Ruck ins Büffet beförderte, bis nach einer Versöhnungsnacht er wieder an seinem gewohnten Platze hing. Das war nun etwas, was uns Kinder sehr amüsierte.

Im Elternhause der Mutter wurde schoene Geselligkeit gepflegt. Die Mutter entbehrte sie in ihrer Ehe sehr. Der Vater wollte sie ganz für sich haben & hütete sie mit quälender Eifersucht. Ihre Schwestern, teils verheiratet, teils noch ledig, amüsierten sich auf Baellen im Militärkasino, Gutenberg-Kasino etc. & erzählten ihr davon. Manchmal scheint sie ihren Willen doch durchgesetzt zu haben. Ich erinnere mich eines Abends (vielleicht war ich 10 oder 12 Jahre), wie sie strahlend in einem grün-rosa changeant Kleid vor uns stand. Die Schultern nach der damaligen Mode frei. Wahrscheinlich wird man von dem ueppigen, schönen Busen mancherlei gesehen haben. Der Vater kam vom Bureau herauf um sich umzuziehen. Sie sehen & erklären, er ginge nicht mit ihr in diesem schamlosen Kleid war eins. Tränen, Verzweiflung bis er endlich einwilligte unter der Bedingung, daß sie einen Shawl umhängen müsse. Da war ich ganz auf der Seite der Mutter & verstand den Vater nicht.

Wir verlebten eine schoene Jugend in der Heiliggrabgass. Eines Tages sagte der Vater zu uns, er habe ein grosses für die weitere Ausdehnung des Geschaeftes geeignetes Anwesen gekauft. Es war ein altes Patrizierhaus mit schmaler Fassade nach der Betzelsgasse, die anderen Wohnräume lagen nach dem Garten, das Bureau & das Lagerhaus waren im Hof mit Durchfahrt von der Stadthausstrasse nach der Franziskanerstraße.[Seite 9] Ein wirklich herrschaftlicher Besitz. Das Wohnhaus war ursprünglich ein altes Franziskanerkloster & wurde später von Bürgermeister Maquet bewohnt wie Mainz französisch war. [Ergänzung aus dem Typoskript: Die Kaiserin Josephine hatte eine Pawlowna imperialis im Garten gepflanzt, die uns mit schönen lila Blüten erfreute.] Das war wieder ein Aufstieg & bedeutete auch vor Allem einen Umschwung im Leben der Mutter. Nun konnte sie das verwerten, was in ihr schlummerte & was ihrer Persönlichkeit entsprach. Sie ging mit unglaublicher Energie an die Arbeit, dirigierte Maurer, Maler, Tapezierer, die Alle großen Respekt vor ihr hatten. Zufällig zog sich zu dieser Zeit eine Angehörige der alten Mainzer Familie Lauteren ins Kloster zurück & verkaufte ihren ganzen Besitz, darunter viel schoene Moebel & Porzellane. Die Mutter nahm sich das Beste heraus, besuchte unermüdlich Mainzer & Wiesbadener Antiquare, die sie wegen ihrer Zähigkeit im Handeln bald fürchteten, die sie aber auch durch ihren Charme bezauberte. Mit gesundem Instinkt & einem natürlichen, künstlerischen Gefühl wusste sie das Gute herauszufinden. So entstand eine Wohnung, die weit ueber den Durchschnitt hinausging & in Mainz Aufsehen erregte. Allmälig kam wieder die gewohnte Ordnung in unser Leben, sehr zu unserem Leidwesen.

Wir hatten viel mehr Freizeit gehabt & dann war es so interessant, Malern & Tapezierern zuzusehen & sich mit ihnen zu unterhalten. Als ob es immer so gewesen wäre, kam der Vater mit seiner von ihm nicht wegzudenkenden Mütze, dem schwarzen Juppchen, die Arme auf dem Rücken verschränkt, vor sich hinpfeifend immer nachdenkend & geistesabwesend durch den Hof & den Garten zu den Mahlzeiten. Die Mutter hatte nun eine größere Inspektionsreise durch die Zimmer [Seite 10] zu unternehmen. Mit Flederwisch, Pinsel & Staubtuch bewaffnet, man kann es nur kämpferich ausdrücken, staubte sie ihre geliebten Antiquitäten selbst ab, fuhr mit dem Zeigefinger ueber die glatten Flächen der Möbel. Wehe, wenn sie irgendwo Staub fand. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie den Finger mit strafenden Blick, als hätte sie das größte Verbrechen begangen, dem Mädchen unter die Nase hielt. Die dazu noetigen Begleitworte fehlten natürlich nicht. Dann kam die Köchin an die Reihe zur Abrechnung. Ueber jeden Pfennig & jedes Ei wurde Auskunft verlangt. Es ging selten ohne eine Auseinandersetzung ab. Das gehörte zum Morgenprogramm. Allmälig rückte die Stunde heran, wo die Friseuse erschien, die mit einem Brenneisen, das auf einem Spiritusapparat erhitzt wurde, bei dem man immer gewärtig sein musste, dass er in die Luft flog, Wellen & Locken brannte & dann die Unterlage & den falschen Knoten aufsteckte. Der Odeur von versengtem Haar & Spiritus gehört auch zu meinen unvergesslichen Erinnerungen. Nun erheblich besser gelaunt machte sie sich zum Ausgehen fertig. Im Vorbeigehen wurde noch rasch ein Blick in die Küche geworfen & die Köchin eindringlich gemahnt, die Kartoffeln & das Gemüse zeitig aufzustellen & den Braten fleißig zu uebergiessen. Wir kamen um 1 Uhr aus der Schule & dann wurde im Wohnzimmer, das mit den alten Eßzimmermoebeln aus der Heiliggrabgasse eingerichtet war, zu Mittag gegessen. Hoffentlich war dann Alles gut geraten, die Buben hatten saubere Hände, mein Zopf war glatt geflochten, daß man friedlich essen konnte. Dann setze sie sich behaglich & gut gelaunt auf ihr rotes Plüschsofa & trank ihren starken Mokka. Ein Moment, den wir immer benutzten, um irgendetwas von ihr abzubetteln.

[Seite 11] Und am Mittag? Der Vater ging wieder in sein Geschaeft, machte auf die Minute seinen Spaziergang mit seinem geliebten Jagdhund an den Rhein oder nach dem Gautor. Manchmal begleitete ihn die Mutter, wenn sie zu keinem Kaffeeklatsch eingeladen war oder lange Sitzungen bei der Schneiderin hatte.

Wir waren bis 4 oder 5 Uhr in der Schule & gingen [nach einem ausgiebigen Kaffee mit Latwergbrot] dann zum Spielen. Ich besuchte meine Freundinnen oder sie kamen zu mir. Die Buben trieben sich auf dem Hof oder im Geschaeft herum oder waren bei unserem Freund, dem Meester Stahl, einem Landsmann von Vater in der Schreinerwerkstatt [der mir manches Kästchen für meine Andenken machte, den Buben Gewehre schreinerte. Später war die Werkstatt geradezu austapeziert mit den ersten Malversuchen meines Bruders Conrad. Sein größter Bewunderer war der alte Stahl. Er konnte sie ganz andächtig betrachten mit seinen kleinen, fideln Augen. Die Brüder waren gefürchtete Raufbolde.] Oft waren sie plötzlich verschwunden & kamen spät Abends mehr oder weniger zerschunden von einer Rauferei [mit den „Buddels“, der feindlichen Partei] nach Hause. Die Hausaufgaben ueberwachte die Mutter — wenn sie Zeit dazu hatte. Die Kinderfräuleins hielten es Gott sei Dank nie lange bei uns aus. Im Sommer schwirrten wir wieder hinaus, aber im Winter sassen wir brav lesend oder schreibend am Tisch unter der heissen, gemütlich summenden Gashängelampe im meist sehr ueberheizten Wohnzimmer. Die Mutter war oft im Theater oder in Conzerten. Man wusste nie recht, war es ihrer schoenen Toiletten wegen oder hatte sie noch ihre alte Theaterleidenschaft. Ganz zum Schluss präsentierten wir eine schlechte Note oder ein Arrest zum Unterschreiben. Manchmal ging’s gut ab, manchmal gab es ein Donnerwetter, auch vom Vater. Das war so der Tageslauf & ähnlich spielte es sich in vielen Familien ab. Der Vater war mit seinem Geschaeft ausgefüllt, wenn es auch [Seite 12] nicht seiner Natur entsprach. Aber er hatte Erfolg. Er hatte auch seine Jagd, war oft bei dem alten Herrn Puricelli, Besitzer der Rheinböller Hütte. In Heidenheim in der Nähe von Mainz gab es Treibjagden mit fidelen Jagdessen bei Tillmann, nicht zu vergessen die Jagden im Hochwald von Wildenburg aus. Doch die Mutter? Entsprach dieses Dahinleben ihrer ganzen Veranlagung? Ihre Energie, ihr künstlerischer Sinn, ihre Tatkraft, verlangten nach mehr Betätigung.

Das Dahinterhersein im Haushalt, bei uns Kindern, auch bei ihrem Mann, war die unbewusste Auswirkung. Manchmal hatte sie melancholische Anwandlungen, aber sie war doch vorwiegend fidel & urwüchsig & konnte sich ueber jede Kleinigkeit wie ein Kind harmlos amüsieren. Wenn z.B. [der immer à quatre épingles angezogene] Consul Peltzer, ein feiner alter Cavalier oder Geheimrat Reuleaux sie begleiteten & ihr Complimente machten, erzählte sie es uns strahlend & auf die brauchte der Vater nicht eifersüchtig zu sein. Da war noch der alte Geheimrat Vierling, unser Hausarzt, der die Mutter schon als Kind behandelte & Mathildche zu ihr sagte. Auf den hatte der Vater eine gewisse Eifersucht, wenn er seinen grauen Kopf auf ihren schoenen Busen legte um ihr Herz zu untersuchen & ich glaube auch, dass der alte Sünder ganz schoene Gefühle dabei hatte. Er sah aus wie der „Nickeloos“ mit seiner hohen Pelzmütze, der großen Nase, auf der ein Pincenez sass & dem langen grauen Bart. Er schnupfte dauernd aus seiner „Schnubbdewachsdos“ & schneuzte sich geräuschvoll in sein grosses buntes Taschentuch. Ich konnte ihn aus verschiedenen Gründen nicht leiden. [Seite 12] Einmal hatte er mir ein Salbenheilmittel gegeben, an dem ich fast gestorben bin & dann behauptete er, ich hätte Anlagen zur Rückgratsverkrümmung. Nun wurde mir ausgerechnet nach dem Mittagessen jeden Tag ein an einem dicken Seil befestigter Ring mit einer maulkorbähnlichen Einrichtung um Hals & Kopf gepresst & dann wurde ich bis fast an die Decke hinaufgezogen. So musste ichmindestens eine Viertelstunde mit hochrotem Kopf da oben herumbaumeln. Ich kann mir also gut vorstellen, was es heißt, gehängt zu werden. Diese Viecherei hörte Gott sei Dank bald auf, da auch die Eltern es zu furchtbar fanden. Eine Rückgratverkrümmung habe ich bis heute nicht. Meiner vielen Mitesser wegen, die die Mutter auf sein Anraten jeden Abend mit größter Wollust herausdrückte, wurde eine Badekur in Kreuznach verordnet, auch zur besonderen Freude der Mutter, die dort ihre schoenen Toiletten zeigen konnte. Zu meinem Unglück entdeckte sie dort einen Antiquar, bei dem sie stundenlang saß, ich leider auch. Ueberhaupt die immer größer werdende Leidenschaft, die Antiquare! Wo sie hin kam, war es das Erste, dass sie danach Umschau hielt. Wenn sie dann einen oder sogar Verschiedene erwischt hatte, war nichts mehr mit ihr anzufangen. Stundenlang kramte sie in den hintersten Ecken herum & wer gerade das Pech hatte, sie zu begleiten, musste so lang aushalten. Ihre Routine & ihre Zähigkeit im Handeln hatte System bekommen. Tagelang konnte sie den armen Mann quälen bis er endlich einwilligte, um nun seine Ruhe zu haben. In meinen Zimmer steht manches schwere Stück aus dem Elternhaus, das mich an die verschiedenen Kaufepisoden erinnert & mir sagt, dass das Herumsitzen & Warten sich doch gelohnt hat.

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam eine schwere Erkrankung der Mutter: Rippenfell, Lungen & Venenentzündung. Mit dem Vater war es schlimm. Er sprach kein Wort, brütete vor sich hin & wenn ihn jemand nach dem Befinden der Mutter fragte, wurde er grob.

Meine Confirmation verlief traurig. Ich kam dann plötzlich in ein Pensionat nach Trarbach a. d. Mosel. Warum, fragte ich mich. Warum soll ich aus allem herausgerissen werden — meine Eltern, das schoene Mainz, meine Freundinnen & Alles, was ich lieb hatte, verlassen? Die Antwort sollte mir später gegeben werden. Ich bekam vom Vater einen Brief, am 13. Okt. ein Brüderchen zur Welt gekommen wäre. Da wusste ich, warum die grosse Tochter nicht im Hause bleiben konnte. 1 1/2 Jahre musste ich in dieser furchtbaren Pension bleiben. Dann kam ich nach Lausanne. Eine schoene sorglose Zeit. Nach einem viel zu kurzen Jahr kehrte ich nach Hause zurück. Es war schwer, sich wieder einzugewöhnen. Ich vermisste sehr den schoenen Lac Leman, die Ausflüge ins Gebirge, die warme Freundschaft unserer Madame, die genaue Zeiteinteilung & die geistige Anregung. Doch in der Jugend verschmerzt man rasch. Es kamen die Freundinnen, Tanzstunde, Theater, Conzerte. Zu meinem 18. Geburtstag wurde im Garten & Hof ein schoenes Abendfest arrangiert, das die Mutter mit ihrer ganzen Phantasie gestaltete. Ich war in die Gesellschaft eingeführt. Im Winter darauf reihte sich Vergnügen an Vergnügen. Der arme Vater musste oft seinen Frack anziehen & wachte nun auch eifersüchtig ueber die Tochter. Einmal kam er in eine fidele Unterhaltung mit dem schlagfertigen August Bembé hineingeplatzt, worauf dieser nicht faul ihm erklärte: „Herr Geheimrat, setze se doch ihr Tochter in ä Glaskästche!“ Die Mutter genoss die Zeit in vollen Zügen. Sie war immer die Schoenste in den wundervollen Toiletten, die das geniale Fräulein Gerson für sie anfertigte. Ich stand etwas wie ein Aschenbrödel daneben & war oft tief unglücklich, wenn sie mich bei Auseinandersetzungen nicht verstand. Jahre später war ich in der gleichen Situation, wenn es auch nicht das Problem Mutter-Tochter war, so bekam ich doch von Mann & Soehnen Manches zu hören, was ich der Mutter damals vorgeworfen.

Nachdem ich 2 Winter ausgegangen, heiratete ich nach Mannheim & wenn sie auch beim Abschied ein bischen weinte, wird sie doch bald erleichtert aufgeatmet haben, — noch mehr wie auch die beiden Buben wegkamen. Schliesslich hat ja jeder Mensch wenn er jahrelang seine Pflicht getan hat, das Anrecht, sich sein Leben nach seiner Façon zu gestalten, obwohl die Familie immer dafür sorgen wird, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Wäre die Mutter noch am Leben, würden wir uns sicher heute in diesem Punkte voll & ganz verstehen & ich höre sie sagen: „Siehst es, ich hab doch Recht gehabt.“

Hat man einen Architekten zum Schwiegersohn, müsste es schon komisch angehen, wenn er nicht eines schoenen Tages ein Haus für seine Schwiegermutter bauen würde, noch dazu für eine Schwiegermutter, die den Bau- & Einrichtungsfimmel hat. Es wurde also beschlossen, ein Jagdhaus im Hunsrück zu bauen. Schon viele Jahre verbrachten wir unsere Ferien im Hochwald, zuerst auf der Asbacher Hütte, wo der Vater als junger Mann eine fröhliche Benamtenzeit verlebte. Der Hunsrpck war ihm zur zweiten Heimat geworden. Später waren wir auf der Wildenburg, einem gemütlichen einfachen Forsthaus mit alten Ruinen, für den Vater & uns Kinder ein idealer Ferienaufenthalt, weniger für die Mutter, die lieber in ein elegantes Bad gegangen wäre. Schon auf der Fahrt von Oberstein nach Katzenloch hinauf in einer vorsintflutlichen Kalesche auf holprigen Wegen, unglückseligerweise meistens bei strömendem Regen ging das Lamento los, was sie für eine unglückliche Frau sei, die sich in die Einsamkeit vergraben müsse. So ging es ein paar Tage, bis Vater ihr versprach, mit ihr nach Oberstein zu fahren, wo einige Perlenhändler wohnten & das wegen seiner Edelsteinschleifereien bekannt ist, um ihr einen schoenen Schmuck zu kaufen. Dann war sie getröstet & wenn dann noch ihre Schwester Elise Best herauf kam, war alles in bester Laune & Ordnung.

Nun sollte also das Haus gebaut werden & alle Aversion gegen die Einsamkeit war verflogen. Der gute Schwiegersohn kam also eines schoenen Tages mit einem Plane in der sicheren Annahme, dass er ihrem Geschmack entsprechen würde. Er hatte ja schon Manches mit ihr erlebt, aber ganz kannte er seine Schwiegermutter doch noch nicht. Ertstens wollte sie eine Halle & er nicht, zweitens wollte sie einen „brennenden Kamin“ & er war dagegen. Es entstand ein zäher, erbitterter Kampf, woraus meistens die Mutter als Siegerin hervorging, wo nicht, konnte er gewärtig sein, dass er jedes Mal bei seinem Besuch im fertigen Hause den & den vermeintlichen Fehler „unter die Nas‘ geriwwelt“ bekam. Aber sonst verstanden sie sich gut. Er hatte bei ihr einen grossen Stein im Brett & wenn sie etwas auf dem Herzen hatte, sprach sie sich bei ihm aus.

Der Vater hatte den Bauplatz sorgsam ausgesucht. Er lag oberhalb Kempfeld, den Aussichtspunkt der Wildenburg sah man im Hintergr& durch die Bäume. Von der anderen Seite hatte man einen wundervollen Blick in das langgestreckte Hochtal mit seinen vielen kleinen, durch Jagderinnerungen schon so vertrauten Dörfer. Dahinter die dunklen Berge des Idar & Hochwaldes. Eine melancholische Gegend, die durch die mit Schiefer bedeckten Haeuser eine düstere Note bekam, aber wunderschoen für den, der sie begriff. Sie entsprach der Art des Vaters & auch ich liebte sie wie auch die rauhe, kräftige Luft. Da oben war er ein anderer Mensch. Mit „der Flint auf dem Buckel“ lief er stundenlang teils allein, teils mit uns durch die schoenen Wälder, aber immer war ein Jagdh& sein Begleiter. Sein bester Fre& war der alte Druff, der ihn in den letzten Jahren seines Lebens begleitete. Er liess sich mir rührender Geduld, den treuen Hundeblick nicht von ihm wendend, alle oft recht unbarmherzigen Dressuren gefallen. Der Vater machte da oben seine Witzchen, die wir schon lange kannten, wie auch sein Jaegerlatein, das er den ganz veraengstigten Staedtern aufband, erzaehlte seinen Enkeln, unseren Buben, die mit großer Liebe & Bewunderung an ihm hingen, abenteuerliche Geschichten & vor allem von seiner Jugend.

Der Förster Saling mit dem langen roten Bart, immer die Pfeife im Mund, der Forstmeister & der Bürgermeister von Kempfeld kamen oft an uns, gemütliche, einfache Menschen, die einen guten Tropfen absolut nicht verachteten. Er war ueberall als „der Hummel“ bekannt & wenn er wieder oben war, ging es wie ein Lauffeuer durch die ganze Gegend: „Der Hummel ist wieder da.“ Ohne daß er viel Worte machte, verband ihn ein Zusammengehörigkeitsgefühl & ein Verstehen mit diesen harten, sonstr unzugänglichen Bauern, die in dieser rauhen Gegend ihr Brot sauer verdienen mussten & sehr arm waren. Um das Los der dortigen Achatschleifer zu erleichtern & ihnen bessere Verdienstmöglichkeiten zu geben, gründete er das Idarwerk in Oberstein, eine Fabrik für Präzisionswerkzeuge.

Dieselbe Zusammengehörigkeit verband ihn auch mit den Angestellten aller Unternehmungen. Für jeden, vor allem für den einfachsten Mann hatte er Verständnis & ein nettes Wort. Am Neujahrstag kamen die Beamten der Mainzer Firma zu ihm zur Gratulation. Er saß an seinem Schreibtisch im Jagdraum. Der Packer in seinem einfachen Rock wurde genauso herzlich empfangen wie der Prokurist in Gehrock & Cylinder. An seinem Geburtstag lud er Alle ein zu Hirschbraten, Kartofffelsalat & Bier so viel sie trinken konnten. Die Mutter, wir Kinder waren immer dabei. Es wurden humoristische Vorträge gehalten, selbstgedichtete Lieder im Chor gesungen & der Vater & die Mutter in Toasten gefeiert. Wir waren wie eine grosse Familie.

Die Mutter ging, nachdem der Hausbau beschlossen, mit gewohnter Energie ans Werk. Die Antiquitätengeschäfte wurden wieder von oben bis unten durchsucht, Tapezierer, Schreiner etc. in Trab gebracht & dann hatte sie ein Heim hingestellt, das von jedem, der hinauf kam, bewundert wurde & selbst der Architektschwiegersohn musste zugeben, dass es gut gelungen war. Nun gab es Gastlichkeit mehr wie genug. Auch die Mädchenfrage war glücklich gelöst. Der ewige Krieg war einem wohltuenden Frieden gewichen. Eva, die gute Köchin, & „dat Jettche“ aus Kempfeld, die später ihre ganze Treue beweisen konnte, sorgten dafür, dass Familie & Gäste zufrieden waren.

Der Vater war ein Jaeger, wie er sein soll. Er ging nicht nur auf die Jagd, um einen Bock zu schießen. Durch die Natur zu gehen, das Wild zu beobachten, war für ihn dieselbe Freude. Es war auch schoen, abseits der grossen Wege auf den samtweich bemoosten Schneisen zu wandern in dieser wunderbaren Stille & koestlichen Luft. Manchmal setzte ein aufgescheuchtes Rudel Rehe vorbei oder ein Stück Wild äste friedlich, eine Wildtaube gurrte & dazu die Dämmerung, die untergehende Sonne & die Frische des schoenen Sommer- oder Herbstabends. Ich begleitete ihn oft, gesprochen wurde nicht viel. Das war weder seine noch meine Art. Das Leben auf einem Jagdhaus hat grossen Reiz. Einmal wird in den frühen Morgenstunden hinaus gegangen, dann wieder am Abend zurück & nun ist die Spannung gross, ob der Jaeger Weidmannsglück gehabt & endlich den schlauen Bock, der ihn so oft schon an der Nase herumgeführt, geschossen hatte. Von der Rebhuhnjagd kamen sie meist mit grosser Beute zurück, manchmal war auch noch ein Hase dabei & die treuen tüchtigen Hühnerhunde wurden genau so gelobt wie ihre Herrn. Zur Abwechslung schoss man auch Wildtauben im gegenüberliegenden Wald oder man brachte einen Raubvogel mit nach Hause. Der Stelzfuß Engers, früherer Wilddieb, uns sehr ergeben & Erzieher der Buben, lehrte sie das Forellenfischen. Wir kamen mit vollen Eimern zurück, Krebs … wurden gelegt, wenn es dunkel war. Es war nicht nur für Unterhaltung, sondern auch für große Abwechslung in der Küche gesorgt.

Nur 4 sorglose Sommer verlebten die Eltern auf Jagdhaus Herrenflur, 1910 wurde es gebaut & 1914 begann der Weltkrieg. Der Vater hatte schon viele Jahre vorher den Verein für Volkswohlfahrt mit Volksküchen, Kindergärten etc. mit begründet & den Bau- & Sparverein einer eigenen Idee folgend ins Leen gerufen, der es ermöglichen sollte, minder bemittelten Leuten gesunde & schoene Wohnungen zu bauen. Er war der Praesident, Vicepräsident unser biederer Schreinermeister, der Schwabe Stahl. Die guten Mainzer schüttelten den Kopf ueber solche Verrücktheiten & es gehörte schon Mut & Idealismus dazu, um sich gegen sie zu behaupten. Heute würde man ihn verstehen.

Nun trat der Krieg in sein Recht & alle Kraft musste dafür eingesetzt werden. Die Mutter, die Vorsitzende verschiedener Wohlfahrtsaemter war, uebernahm die Kriegskinderfürsorge. Wie segensreich & klug siegearbeitet hatte, wurde nach ihrem Tode in ehrenvollen Nachrufen gewürdigt.

Wir waren vom Schicksal verwöhnt. Die Eltern & damit auch wir lebten in einer erfolgreichen, aufstrebenden Zeit & wenn es auch manchmal Rückschläge gab, so waren sie für den Aufstieg bedeutungslos. Ausser einer schweren Erkrankung der Mutter waren wir alle von Ernstem verschont geblieben. Wir lebten sorglos dahin & Jeder fand es selbstverständlich. Umso mehr traf uns die unerbittliche Tatsache von einem furchtbaren, ja vielleicht totbringenden Leiden dieser urges& scheinenden, immer noch schoenen Frau. Nachdem sie wegen verminderter Sehkraft am rechten Auge & Kopfschmerzen ahnungslos einen Augenarzt konsultiert hatte, liess dieser den Vater zu sich bitten & sagte ihm, daß das Augenleiden seiner Frau auf einer krebsartigen Erkrankung beruhe, ihr Leben aufs Höchste gefährdet sei, wenn das Auge nicht bald entfernt würde. Der arme Vater! Er musste seine ganze Kraft zusammennehmen, um nicht zusammenzubrechen & hatte dazu die kaum tragbare Aufgabe, der Mutter eine hoffnungsvolle Aufklärung zu geben. Es wurde beschlossen, den berühmten Augenarzt Professor von Hess in München, ein geborener Mainzer, zu consultieren. Ich begleitete die Eltern. Die Hoffnung, daß dieser unsere Befürchtungen verneinen würde, traf nicht ein. Die Mutter gab mit mutiger Entschlossenheit ihre Einwilligung zur Entfernung des Auges. Die Operation wurde so bald wie moeglich vollzogen. Als sie wieder noch halb in der Narkose mit verbundenem Auge ins Zimmer zurück gebracht wurde, brach mir fast das Herz. Sie war bewunderswert gefasst, machte nach einigen Tagen wieder ihre Spässe & amüsierte sich, wie Geheimrat von Hess für seinen Assistenten bei ihr anfrug, ob ich noch frei sei. Er hätte sich in mich verliebt. Es gab aber auch Momente, wo sie die Verzweiflung packte & sie den Vater & mich um Verzeihung bat. Da war es bei uns Beiden mit unserer Fassung vorbei. Der Professor entließ uns mit der Versicherung: „Das Auge konnte ich nicht erhalten, aber das Leben habe ich gerettet“ & so fuhren wir doch zuversichtlich wieder nach Hause. In ihre schoene Wohnung zurückgekehrt, die mit einer Unmenge von Blumen, von Hoch & Niedrig gesandt, geschmückt war, nahm sie bald mit alter Energie ihr gewohntes Leben auf, gab sogar noch kleine Gesellschaften. Nach ungefähr einem halben Jahr fing sie an zu kränkeln, klagte ueber Schmerzen in der rechten Seite, war reizbar & nervös. Wie wir sie besuchten, waren wir erschrocken ueber ihr veraendertes Aussehen. Mein Bruder Conrad schlug vor, den Internisten Professor Mueller aus München kommen zu lassen. Die Diagnose lautete: Leberkrebs, hoffnungslos. Ihr selbst wurde gesagt, dass die Schmerzen von der Rippenfellentzündung, die sie vor Jahren gehabt, kämen. Ansicht der Aerzte war, dass die Mutter in einem Krankenhause bessere Pflege hätte. Da doch keine Hoffnung auf Genesung bestand, würde ich sie lieber in ihrer gewohnten Umgebung gelassen haben, dem Gärtchen, in dem sie manchmal hätte auf & ab gehen koennen, aber es wurde anders bestimmt. Wir brachten sie am 16. Dezember 1916 in das neue staedtische Krankenhaus. Ein nicht zu beschreibender Moment, wie sie zum letzten Male durch die Türe ihres so geliebten Hauses schritt & diese sich für immer hinter ihr schloss. Es ist wahr, sie hatte da oben die beste Pflege, die man sich denken konnte. Die katholischen Schwestern waren aufopfernd & der Chefarzt tat Alles, um ihr die Schmerzen zu erleichtern & den bedauernswerten Zustand einigermaßen erträglich zu machen. Dat Jettche, die treue Seele, war Tag & Nacht bei ihr. Der Vater wanderte zwei Mal am Tage zu ihr, immer etwas mitbringend, was ihr Freude bereiten konnte. Conrad kam von Friedberg, wo er Dolmetscher & Offizier in einem Gefangenenlager war, herüber, so oft es seine zeit erlaubte. Hermann ließ sich von der Front Urlaub geben, ihr Jüngster Carlchen saß oft an ihrem Bett. Ich selbst war jede Woche von Montag bis Mittwoch bei ihr, manches Mal brachte ich die Kinder mit. Jeder suchte ihr das schwere Los zu erleichtern.

Im Schicksal bewährt sich der Mensch. Das konnte man von der Mutter im wahren Sinne des Worts sagen. Alle Aeußerlichkeiten waren verschwunden. Da lag eine nach innen gerichtete zarte fromme Frau voller Wärme & Sorge für ihre Angehörigen trotz ihrer Schmerzen. Die Eltern waren sich so nahe wie wohl nie in ihrer ganzen Ehe. Ihre Liebe war neu erwacht, nicht mehr stürmisch & jung, aber umso tiefer & inniger. Am liebsten wäre ich aus dem Zimmer gegangen, wenn der Vater da war, um sie nicht zu stören, vor allem am letzten Bescherabend, den sie erlebte, wie sie Hand in Hand vor dem kleinen Bäumchen aus dem kempfelder Wald saßen, schoene Erinnerungen hervorholten & in Erkennung des furchtbaren unerbittlichen Geschicks vor sich hin weinten. Ich saß still in der Ecke. Diesen Abend werde ich nie vergessen. Die unheimliche Krankheit zehrte nun rasch an ihrem Körper, sie wurde immer weniger & dann kam das Ende, die Erlösung. Conrad & ich waren bei ihr. Er hielt ihre Hand, ich saß an seiner Seite. Sie schien bewusstlos, aber einige Male drückte sie ihm noch die Hand, wenn er sie anrief. Manchmal ein Stöhnen, sonst tiefe Ruhe. Der Atem wurde schwächer & schwächer & dann war es vorbei. Es war ein klarer februarabend. In der Nähe bliesen Soldaten den Abendappell. Die Sonne war am untergehen. Ich konnte nicht weinen. Dieser Tod war etwas so Grosses & Erhabenes, daß jeder Schmerz verstummte. Ich legte ihr eine Blume in die Hand. Das Gesicht war schoen & edel, vom Leid gezeichnet, & dann kam der Vater. Er riss das Fenster auf & schrie: „Luft, frische Luft“ & dann sank er vor dem Bett in die Kniee. Diesen Schmerzensausbruch zu schildern wäre profan. Es würden auch die Worte dazu fehlen. Uns, die wir es erlebt haben, hat es ins Tiefste erschüttert & uns noch inniger verbunden. Das war am 17. Februar 1917. Er ueberlebte die Mutter um 4 1/2 Jahre. Sein Leben war ausgelebt. Es hatte nur noch Sinn in der Sorge um uns Kinder, vor allem um seinen Jüngsten, den er als Vermächtnis der Mutter betrachtete. Sein ganzes Denken ging dahin, das, was er geschaffen, auf Jahre für uns zu sichern. Immer mehr kehrte er zur Einfachheit zurück. Wenn man ihn sah, ein in sich gekehrter alter, einfacher Mann. Herrenflur war seine Zuflucht. Dort schrieb er die Geschichte der Familie Hommel & die Erinnerungsblätter an seine Frau. Aus beiden spricht eine tiefe Resignation, ein sich Abwenden von der Stadt, seinen Menschen, der Gier nach Geld & Gut & neben Allem das große Heimweh nach der unvergesslichen Verstorbenen. Täglich wanderte er an ihren Lieblingsplatz mit dem schoenen weiten Blick in ferne Gebirge. Dort hält er Zwiesprache mit ihr & erwartet den Tod als Freund, Erlöser & Vermittler mit dem Jenseits. Und dann hat sich sein Wunsch erfüllt, nachdem er noch einige Tage vorher mich hier besucht hatte. Wir ahnten Beide nicht, dass es ein Abschied fürs Leben war. Beim Rauschen der Wälder in einer Sommernacht ist er hinübergeschlummert. Er ist allein gestorben, aber ehe er sich zum letzten Schlafe niederlegte, wird er noch einmal die Gegend mit einem Abschied nehmenden Blick umfasst haben & wir werden bei ihm gewesen sein. Sein letzter Seufzer aber vereinige ihn mit seiner Frau im festen Glauben an ein Jenseits. Am anderen Tage sprach es sich bis zur entferntesten Hütte herum: „Der Hummel ist tot!“ Und dann kamen sie aus allen Dörfern, eine unübersehbare Menge, um ihm auf seiner letzten Fahrt hinunter das Geleite zu geben. Das ganze Tal hallte wieder vom Glockengeläute all der kleinen Dorfkirchen. Er ist wie ein Fürst zu Grabe getragen worden, aber er war so gar kein Fürst. Ein schlichter Mensch mit gutem, richtigen Gefühl für die, die hinter seinem Sarge gingen, die Forstleute, Bauern, Armen & Bedrückten, denen er oft Helfer war.

Nun ruht er neben seiner Frau in Mainz am Rhein. Felsen, Fichten & Erika aus seinem Hochwald bedecken ihn.

Das ist das Leben & Sterben der Eltern. Liebe & Dankbarkeit haben mir die Feder geführt.Mögen meine Kinder, wenn ich den letzten Weg gegangen, mit gleichen Gefühlen meiner gedenken. Dann habe ich nicht umsonst gelebt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert